Charlotte Fraier (verh. Propper)

von Valentin Wiesbrock

Im Zuge des Projektkurses Geschichte meiner Schule begann ich mich dem Fall einer jüdischen Schülerin der Königin-Luise Schule zu widmen. Charlotte Fraier besuchte während der Zeit des Nationalsozialismus die Königin-Luise Schule, was für mich besonders interessant ist, da ich mir heute kaum vorstellen kann, wie es wäre, wenn eine Mitschülerin, Freundin oder auch ich selbst durchmachen müsste, was Charlotte Fraier durchgemacht hat.

Als Grundlage hatte ich einige sehr spärliche Informationen, welche das NS- Dokumentationszentrum zur Verfügung stellte. Begonnen habe ich meine Recherche damit, im Internet Portale zur Ahnenforschung zu durchsuchen, um Informationen über Charlotte Fraier zu gewinnen. Bei den meisten Seiten hatte ich wenig Erfolg, was auf eine erschreckende Tatsache hinweist: Das Vergessen. Damit Menschen wie Charlotte nicht vergessen werden, sondern ihrer gedacht wird und wir aus Fehlern in der Vergangenheit lernen, versuche ich mit dieser Arbeit, soweit dies mit den wenigen Informationen, welche das Internet oder andere Quellen über sie preisgeben, möglich ist, ihrem Leben Respekt zu erweisen und sie vor dem Vergessen zu bewahren.

Herkunft

Zu Beginn dachte ich, dass Charlotte am 5. April 1920 entweder in Köln, Deutschland, so das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln, oder in Antwerpen, Belgien, so ein Internetportal zur Ahnenforschung, geboren wurde. Hier merkte ich erneut, wie schwierig es ist, ihr Leben zu rekonstruieren, da ich jetzt nicht mehr nur wenige, sondern auch noch widersprüchliche Informationen hatte.

Um einen Beleg für eine der zwei Behauptungen zu finden, durchsuchte ich die historischen Adressbücher der Stadt Köln aus dem Jahr 1918 und fand eine Information, welche ein Hinweis darauf war, dass sie in Köln geboren ist. Finden konnte ich folgenden Eintrag: “Fraier Jak., Schneider, Mauritiussteinweg 39”, dies deutet darauf hin, dass Charlotte in Köln geboren wurde, da ihr Vater Jakob Fraier bereits die Wohnung, in der sie wohnte, besaß; dass es sich bei Jakob Fraier um ihren Vater handelte, war durch eine Information aus dem NS-Dokumentationszentrum belegt.

Trotzdem wäre es möglich gewesen, dass Charlotte zum Beispiel während einer Geschäftsreise oder eines anderen Auslandsaufenthalts in Belgien geboren worden ist. Allerdings gab sie selbst in einem Fragebogen, welcher mir erst nach vertiefter Recherche im NS- Dokumentationszentrum zugänglich wurde, an, dass sie in Köln am Rhein geboren wurde.

Charlottes Familie

Charlotte lebte mit ihren Eltern Jakob Fraier und Hella Fraier und ihren Geschwistern David, Albert und Fanni im Mauritiussteinweg 39 und wuchs dort wahrscheinlich in wohlhabenden Verhältnissen auf, was man daran sehen kann, dass ihrem Vater nicht nur ein Haus in der Kölner Innenstadt gehörte, sondern Jakob Fraier noch Eigentümer zweier weiterer Häuser war.

Laut einem Eintrag im Gedenkbuch des Bundesarchivs emigrierte ein David Frajer, welcher in Köln um den Zeitraum des Geburtstages von Charlottes Bruder (David Fraier) geboren wurde, weswegen man annehmen kann, dass es sich hier um dieselbe Person handelt, nach Belgien. Dieser David Frajer (oder wahrscheinlich Fraier) wurde nach seiner Inhaftierung am 6. Dezember 1939 in Belgien schließlich zwei Jahre später, am 12. August 1942, nach Auschwitz deportiert. Da Auschwitz erst am 27. Januar 1945 befreit wurde, ist es sehr wahrscheinlich, dass er dort verstorben ist. In den Datenbanken des Bundesarchivs sowie bei Yad Vashem waren keine weiteren Informationen zu ihm zu finden. Gewissheit gibt es auch hier nicht.

Schullaufbahn

Zu Charlottes Schullaufbahn gab sie in ihrem Fragebogen folgendes an: „3 Jahre Dr. Carlebach, 1 Jahr Lützowstr., 3 Jahre Königin-Luise-Schule, 1 Jahr zurück in Volksschule Lützowstr., 2 Jahre Höhere Handelsschule in der Burgunderstr.”

Man kann somit davon ausgehen, dass sie mit 6 Jahren, also im Jahr 1926, eingeschult wurde. Ihre erste Schule war die Moriah, eine Unterschule der Jawne, welche unter anderem von Dr. Carlebach gegründet worden war. Hier blieb sie allerdings nur für drei Jahre. Das vierte Jahr der Grundschulzeit war sie auf der Lützowstr. Danach besuchte sie schließlich von 1930 bis 1933 die Königin-Luise-Schule. Von dort aus wechselte sie für ein Jahr wieder auf die Volksschule Lützowstraße und absolvierte somit ihre Schullaufbahn mit einem Volksschulabschluss. Später war sie noch von 1934 bis 1936 auf der Höheren Handelsschule.

Man könnte nun annehmen, dass Charlotte zum Beispiel aufgrund des „Gesetz[es] gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen” die Königin- Luise-Schule verlassen musste, nachdem die Zahl der neu aufgenommenen jüdischen Schülerinnen und Schüler auf 1,5% und der Gesamtanteil auf 5% beschränkt worden war, wodurch viele Juden ihre Schulen ab 1933 wechseln mussten. Allerdings wäre sie nur von der 5%-Regel betroffen gewesen, bei der unklar ist, ob diese bei der KLS überhaupt erfüllt wurde. Vor allem aber scheint sie die KLS verlassen zu haben, bevor dieses Gesetz überhaupt erlassen wurde, nämlich schon zu Ostern 1933.

Sie wechselte auch nicht auf die Jawne, weswegen es auch sein könnte, dass sie entweder das Abitur nicht anstrebte oder ihre schulischen Leistungen nicht reichten. Auch könnte es sein, dass Charlottes Eltern ihre religiöse Identität wichtig war und sie somit auf jüdischen Schulen lernen sollte, jedoch kann man hier nur spekulieren.

Unabhängig davon kann man sagen, dass Charlotte schon in ihrer Jugend mehrfach die Schule wechseln musste, was ein erfülltes soziales Leben erschwert.

Emigration und Heirat

Ob Charlotte auf der Handelsschule ihren Abschluss machte, ob sie eine Berufstätigkeit aufnahm, wie sich ihre Lebenssituation entwickelte - all das wissen wir mangels Quellen nicht.

Sicher ist aber, dass ihr Leben in Köln immer schwieriger geworden sein muss. Während dieser Jahre gab es immer mehr Gesetze und Vorschriften, deren Ziel es war, die jüdische Bevölkerung aus der „Volksgemeinschaft” auszugrenzen und sie zu diskriminieren. Ein Beispiel hierfür ist ein von den Nationalsozialisten als „Arisierung” bezeichneter Prozess ab 1933, bei dem jüdische Unternehmer durch politischen oder wirtschaftlichen Druck dazu gezwungen wurden, ihre Geschäfte weit unter Wert zu verkaufen. So verlor zum Beispiel Charlottes Vater 1939 sein Gewerbe, welches 1938 noch „Herrenkleider” waren, was sehr gut hiermit zusammen hängen könnte.

Es lässt sich sagen, dass neben der zunehmenden finanziellen Unsicherheit durch den Verlust des Gewerbes des Vaters der allgemein wachsende Antisemitismus im damaligen Deutschen Reich eine Emigration begründen würde.

Aus ihrem Fragebogen geht hervor, dass sie 1939 nach Antwerpen in Belgien floh, was bedeutet, dass sie mit 19 Jahren ihr Land verließ und auf der Flucht war. Ein weiteres Problem für Charlotte war jetzt auch das „Gesetz über (die) Änderung der Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer” und die Dego- Abgaben, welche anfangs Gesetze waren, um Menschen daran zu hindern, wegen der Weltwirtschaftskrise mit ihrem Kapital zu fliehen. Unter den Nationalsozialisten wurden sie jedoch ein Instrument, um Juden, welche das Land verlassen wollten, auszuplündern und sich an ihrem Geld zu bereichern. Sie dürfte also wahrscheinlich weitgehend mittellos in Belgien angekommen sein.

Hier hat sie - zu einem unbekannten Zeitpunkt zwischen 1939 und 1948, einen Mann namens Samuel Propper geheiratet. Vermutlich hat sie ihn erst in Antwerpen kennengelernt, denn sie gibt auf ihrem Fragebogen an, er habe nie in Köln gewohnt - und sie selbst ist ja erst 1939 nach Belgien gekommen.

Sam Propper wurde geboren am 21.6. 1911, vermutlich in Antwerpen, denn er selbst besaß die belgische Staatsbürgerschaft und seine Familie stammte wohl aus Antwerpen. Bei den Proppers muss es sich ebenfalls um eine jüdische Familie gehandelt haben, und mindestens zwei seiner näheren Angehörigen wurden Opfer des Holocaust - seine Mutter Roza Propper starb 1942 in Auschwitz; sie wurde dort sicherlich ermordet. Ebenfalls ist Sams Bruder Hendrik im Alter von 32 Jahren im Jahr 1942 gestorben. Auch hier kann man von einer Ermordung durch die Nationalsozialisten ausgehen.

Charlotte und Sam Propper haben wohl in Belgien die deutsche Besatzung überlebt, sicherlich untergetaucht im Untergrund. Im Jahr 1948 findet sich ihr Name auf der Passagierliste des Dampfers "De Grasse", der am 10.9.1948, von Le Havre kommend, in New York einlief. An Bord befanden sich Sam und Charlotte Propper, beide im Besitz der belgischen Staatsbürgerschaft, sowie ihre beiden Kinder, die sie in der Zwischenzeit bekommen haben müssen: Helene (22 Monate alt) und George (11 Monate alt).

Über ihr Leben nach der Emigration ist nicht mehr allzu viel herauszufinden. Charlotte gab auf ihrem Fragebogen "Sekretärin" als Beruf an. Ob sie diesen Beruf auch noch in den USA ausgeübt hat, ist unbekannt. Gewohnt hat die Familie zunächst in New York, hier stellte Charlotte auch im August 1954 einen Antrag auf Einbürgerung, dem auch stattgegeben worden sein muss. Später zogen die beiden Eheleute nach Florida. Hier, in Fort Lauderdale, ist Sam im August 1980 gestorben. Charlotte überlebte ihren Mann um mehrere Jahre und scheint später in Hollywood, Florida gelebt zu haben. In welchem Jahr sie starb, ist nicht bekannt, es kann jedoch nicht vor 1993 gewesen sein, da sie in diesem Jahr den Fragebogen zu ihrer Person im NS-Dokumentationszentrum ausgefüllt hat.

Nachwort

Charlotte Fraier muss unter der NS-Herrschaft Schreckliches erlebt haben, ihre Familie wurde diskriminiert, zur Flucht getrieben und es ist davon auszugehen, dass sogar ihr Bruder in Auschwitz von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Die geringe Zahl der Überlebenden legt nah zu vermuten, dass er nicht der einzige aus Familie und Freundeskreis war, der durch die nationalsozialistischen Verbrechen starb.

Wie wichtig Institutionen wie das NS- Dokumentationszentrum der Stadt Köln sind, welche sich damit befassen, die Geschichte zu bewahren, wurde mir bei dieser Arbeit sehr deutlich. Ohne das knappe Datenblatt wäre es gar nicht erst zu dieser Arbeit gekommen und ohne den Fragebogen von Charlotte wäre diese Arbeit nur auf Hypothesen gestützt, welche sich rückblickend oft als falsch oder nur teilweise richtig herausstellten.

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