Der Zusatzkurs Geschichte der derzeitigen Q2 des Königin-Luise-Gymnasiums hat sich mit der Lebensgeschichte einer ehemaligen Schülerin der KLS beschäftigt: Christine Teusch. Frau Christine Teusch (1888-1968) war eine für die deutsche Geschichte des vergangenen Jahrhunderts sehr bedeutende Person (siehe ausführliche Biographie). Da sie einerseits als eine der ersten Frauen überhaupt im Reichstag saß, andererseits jedoch zum Zeitpunkt der Machtübernahme durch die NSDAP Teil des Reichstages war, stellte sich die berechtigte Frage, ob Christine Teusch ebenfalls Mitwirkende und Unterstützerin des NS-Regimes war und somit als Täterin in der NS-Diktatur bezeichnet werden kann - oder ob sie sich den Wertvorstellungen des Nationalsozialismus widersetzte und sogar eher als Opfer des NS-Regimes bezeichnet werden kann.
Diese Fragestellung war die Grundlage für ein im Kontext des ZK Geschichte angefertigtes Urteil über den Fall von Christine Teusch. Drei Aspekte standen dabei im Vordergrund:
- Lässt sich Christine Teusch eher als Opfer oder als Tater des Nationalsozialismus bezeichnen?
- Wenn wir sie als Opfer des NS-Regimes betrachten, möchten wir für sie einen Stolperstein an der KLS verlegen lassen?
- Abseits vom Ausgang der ersten beiden Fragestellungen: Erscheint uns Christine Teusch als positives Vorbild ihrer Zeit?
Im Folgenden möchte ich kurz, soweit ich sie formulieren kann, die Meinungen des Kurses nach abgeschlossener Arbeit zusammenfassen und anschließend die wichtigsten Punkte ausführen, die sich mir während meiner Arbeit mit dem Fall und in meiner finalen Beurteilung ergaben. Danach jedoch möchte ich allgemein resümieren, was mir diese Beschäftigung mit der Person Christine Teuschs sowie mit der Arbeit an historischen Quellen und allen Erkenntnissen gegeben hat.
Aus Christine Teuschs Biographie lassen sich einige Charakterzüge herausfiltern: Sie war selbstständig, selbstbewusst und emanzipiert, da sie sich dem noch verbreiteten Frauenbild widersetzte, indem sie sich nicht dem klassischen Hausfrauendasein beugte, sondern selbstständig beruflich aktiv wurde. Außerdem engagierte sie sich für Frauenrechte und das Sozialwesen, insbesondere im Bereich der Arbeitsbedingungen. Darüber hinaus bewies sie Mut, Stärke und Selbstbewusstsein, sich als Kandidatin aufstellen zu lassen und aktiv in der Politik mitzuwirken, da für Viele die Vorstellung, eine Frau in der Politik mitwirken zu lassen, vermutlich noch sehr neu und damit unangenehm war. Des Weiteren spielte das Thema Religion in ihrem Leben eine wichtige Rolle - durch die Erziehung in einer streng katholischen Kaufmannsfamilie und im weiteren Berufsleben ihr Engagement im katholischen Verbandswesen. Sie war demnach sehr katholisch orientiert und außerdem sehr loyal ihren Wertvorstellungen gegenüber.
Die Frage, ob es sich bei Christine Teusch um eine (Mit-) Täterin des NS-Regimes handelt, hängt ausschlie߬lich an ihrer Rolle bei der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes; dazu muss ich zunächst die historischen Fakten etwas detaillierter darlegen:
Die Regierungskoalition, bestehend aus der NSDAP und DNVP, beantragte am 23.03.1933 ein „Ermächtigungsgesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“: Die Gesetzgebungskompetenz, auch für verfassungsändernde Gesetze, sollte vom Parlament auf die Regierung übertragen werden. Ein solches Gesetz bedeutete die Aufhebung der Gewaltenteilung, man hat diesen Vorgang deshalb vielfach als „Selbstentmachtung des Reichstages“ bezeichnet – und wir heute wissen, dass dieses Gesetz, nachdem es verabschiedet worden war, die zentrale Grundlage für die Durchsetzung der totalitären NS-Diktatur bildete.
Zunächst musste dieses Gesetz aber vom Reichstag verabschiedet werden, dafür brauchte es eine Zweidrittelmehrheit (378 Stimmen). Die Regierungskoalition hatte die Stimmen der NSDAP und DNVP sicher, zusammen 340 Stimmen; es fehlten also noch 38 Stimmen. Die SPD (120 Stimmen) ließ keinen Zweifel daran, dass sie niemals für ein solches Gesetz stimmen würde – und handelte auch entsprechend. Alle kleineren Parteien verfügten zusammengenommen nur über 32 Stimmen, spielten für den Ausgang der Abstimmung also so oder so keine Rolle. Entscheidend war in dieser Situation das Verhalten der Zentrumsfraktion (74 Stimmen) – darunter Christine Teusch.
Im Zentrum gingen die Meinungen – aus unterschiedlichsten Gründen – weit auseinander, deshalb wurde hinter verschlossenen Türen zunächst eine Probeabstimmung durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass eine deutliche Mehrheit für das Ermächtigungsgesetz votierte, eine kleine Minderheit blieb jedoch entschlossen, gegen das Gesetz zu stimmen; 5 Namen sind bekannt – darunter Christine Teusch. Damit war vermutlich klar, dass das Ermächstigungsgesetz auf jeden Fall die für die Zweidrittelmehrheit noch erforderliche Zahl von Stimmen aus dem Zentrum (38) erhalten würde. Im Grunde ging es also nur noch um die Frage, ob die Fraktion geschlossen zustimmen würde oder nicht.
Nach intensiven Diskussionen wurde eine zweite Probeabstimmung durchgeführt – und jetzt waren auch die letzten Gegner bereit, für das Gesetz zu stimmen, darunter auch Christine Teusch. Damit konnte der Vorsitzende vor dem Reichstag die einhellige Zustimmung des Zentrums verkünden.
Christine Teusch rechtfertigte dies mit der „Rücksicht auf die Partei und ihre Zukunft. Die äußere Einheit der Fraktion und damit die Geschlossenheit der Deutschen Zentrumspartei sollten als letzter Garant demokratischen Rechts und christlicher Grundhaltung in die ungewisse Zukunft hinüber gerettet werden.“
In meiner Beurteilung der ersten Fragestellung, ob Christine Teusch eher als Täter oder als Opfer des NS-Regimes erscheint, ordnete ich sie als Opfer ein. Das Argument, sie als (Mit-) Täter zu bewerten, da sie für das Ermächtigungsgesetz stimmte, habe ich ausführlich betrachtet und festgestellt, dass ihre Stimme letztendlich nicht ausschlaggebend gewesen wäre. Sie stimmte „nur“ aus Loyalitat letzten Endes ihrer Partei zu, mit Gedanken an die Zukunft der Partei und in dem Wissen, dass ihre Stimme nicht die Entscheidende gewesen wäre. Natürlich hätte sie trotzdem bei ihrer Stellungnahme bleiben und für diese eintreten können, aber in Anbetracht der Situation, in welcher sie sich befand, lasst sich doch schon schwerlich sagen, dass sie deswegen als Täter angesehen werden sollte.
Sie war eine der einzigen anwesenden Frau; zu jener Zeit wurden Frauen generell noch nicht häufig in der Politik gesehen, weshalb sie wahrscheinlich sowieso schon weniger respektiert und wahrgenommen wurde als alle anwesenden Manner. Schon gegen diese sexistische Einstellung auch in ihrer eigenen Partei musste sie sich wehren und trotzdem widersetzte sie sich noch als eine von wenigen dem Antrag der NSDAP. Damit einhergehend machte sie sich natürlich automatisch zum Gegner des NS-Regimes und riskierte somit Konsequenzen, falls die NSDAP das Ermächtigungsgesetz durchbringen würde. Da die damalige Politik bereits durch Gewalt geprägt war (man berücksichtige zum Beispiel das Vorgehen gegen die Kommunisten nach dem Reichstagsbrand oder die Drohungen auch gegen Zentrumsabgeordnete unmittelbar vor der Abstimmung), ging sie ein hohes Risiko ein, sich öffentlich der Regierung zu widersetzen.
Letztendlich beugte sie sich der Mehrheit, um ihre loyale Haltung als Teil der Politik zu bewahren und ein letztes demokratisches Zeichen zu setzen, welches als Letztes gelten sollte, bevor die Demokratie sich quasi auflöste.
Gründe dafür, weshalb sowohl ich als auch der Kurs sie als Opfer bewertet haben, waren unter anderem, dass sie Verhöre, Hausdurchsuchungen und Drohungen des NS-Regimes ertragen musste und starkem Druck ausgesetzt war. Frau Teusch war bereits vorerkrankt, sie hatte Herzprobleme und diese verschlechterten sich durch den Stress, dem sie ausgesetzt war. Weitere Gründe waren eine Strafversetzung, welche sie jedoch nach einer Weile wieder rückgängig machen konnte (in manchen Quellen ist sogar die Rede von „wiederholten Strafversetzungen, durch die man sie systematisch kaputt gemacht und ihre Gesundheit zerrüttet habe), sowie ihre Pflicht als Lehrerin, den nationalsozialistischen Vorgaben nach zu unterrichten, die sie mit ihrer Moral nicht vereinbaren konnte. Der letzte und wichtigste Punkt, sie als Opfer zu betrachten, findet sich in dem Argument, dass sie sich über Monate in „Schutzhaft“ befand und durch die Gestapo fast ermordet wurde.
„Auch dort blieb sie von der Gestapo nicht verschont: Sie wurde, wie alle früheren Zentrumspolitiker, verhaftet und bis April 1945 im Hospital in „Schutzhaft“ gehalten. Dabei entging sie nur knapp der Ermordung, wie sie im Sommer 1945 Josef Hoffmann, ihrem späteren Fraktionskollegen im Landtag von Nordrhein-Westfalen, erzählte. In seinen 1977 veröffentlichten Lebenserinnerungen berichtet Hofmann: „Unter Tränen erzählte sie mir, wie sie noch in den letzten drei Tagen vor der Ankunft der Amerikaner von der Gestapo umgelegt werden sollte, wie aber der SS-Mann, der sie im Krankenhaus von Neheim-Hüsten erschießen sollte, an der Pforte des Krankenhauses mit der Nachricht überrascht wurde, dass soeben seine Tochter schwerverletzt durch einen Granatsplitter eingeliefert worden sei. Ohne sich noch um seinen Auftrag zu kümmern, sei der SS-Mann dann in das Krankenzimmer seiner Tochter gestürzt, die noch am gleichen Tag in den Armen ihres Vaters gestorben sei.“ (Zehender 2014, S. 111)
Bezogen auf die zweite Fragestellung, ob Christine Teusch als moralisches Vorbild angesehen werden kann, ob sie eher als positives Vorbild oder negative Figur ihrer Zeit bewertet werden sollte, habe ich folgendermaßen argumentiert:
Christine Teusch war ein Opfer des NS-Regimes, so wie viele Andere auch diesem zum Opfer gefallen sind. Aufgrund ihrer Überzeugungen und Stärke würde ich sie jedoch nicht nur als Opfer bezeichnen, sondern viel mehr als durchaus positives Vorbild. Allgemein gesprochen ist Christine Teusch für ihre Wertvorstellungen und Überzeugungen eingetreten und hat sich nicht von der nationalsozialistischen Ideologie davon abhalten lassen, selbst wenn sie sich dadurch einer starken Mehrheit gegenüberstellen und gewaltsame Konsequenzen riskieren musste.
Meiner Meinung nach braucht es in einer Gesellschaft, sowie in eigentlich jeder politischen Zusammenkunft genau diese Einstellung, um vernünftig zu agieren und zu leben. Da der Mensch dazu tendiert, sich andernfalls zu leicht mit der Masse treiben zu lassen und seine Taten nicht mehr ausreichend zu reflektieren, halte ich es für wichtig, dass so viele Personen wie möglich Christine Teusch folgen, indem sie für ihre eigenen Wertvorstellungen eintreten und stets ihr Handeln reflektieren.
Daher behaupte ich, dass Christine Teusch durchaus ein großes positives Vorbild ist und das nicht nur in ihrer Art und Weise, für ihre Überzeugungen einzutreten und zu kämpfen, sondern auch in den Bereichen, für die sie sich einsetzte. Vor allem erkennbar war ihr Engagement für Frauenrechte und die Emanzipation von Frauen, eindeutig, da sie als eine der ersten Frauen ein Mandat als Abgeordnete im Reichstag besaß. Außerdem ihr Engagement für das Sozialwesen, das sie durch diverse Leitungen wie beispielsweise in der Frauenarbeitsstelle, unterstützte oder später im Reichstag, und zusätzlich die Bildung, die sie nicht zuletzt durch ihre Lehrtätigkeiten unterstützte.
Das Kursergebnis lässt sich grob wie folgt beschreiben: Viele bezeichneten Christine Teusch als Opfer des Nationalsozialismus aufgrund bereits genannter Tatsachen. Niemand ordnete sie als „Täter“ des NS-Regimes ein. Natürlich stand die Frage im Raum, warum sie denn letztendlich für das Ermächtigungsgesetz stimmte, wodurch die Frage nach der Moral und dem Einstehen für die eigenen Vorsätze aufgeworfen wurde. Schließlich ließen sich mehrere Perspektiven herausfiltern, aus welchen man diese Tatsache beurteilen konnte: Einerseits natürlich die Ansicht, dass sie für ihre Moral hätte einstehen sollen und sich nicht der Mehrheit hätte beugen sollen. Andererseits lässt sich kritisch anmerken, dass sie sich in einer außergewöhnlichen Lage befand, in einer Situation, die man sich heutzutage kaum noch vorstellen kann, als eine der wenigen Frauen im Reichstag zu einer Zeit, in welcher die Politik durch Gewalt geprägt war, und dann musste sie noch ihre Meinung vertreten, die sich der Mehrheit widersetzte. Von daher kann eine Bewertung ihrer Handlung in diesem Moment natürlich nicht einseitig erfolgen, sondern ist aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten.
Zur Frage, ob wir für Christine Teusch einen Stolperstein verlegen sollten, kam es auch zu verschiedenen Meinungen. Einerseits die Ansicht, dass wir sie ja als Opfer einordnen würden und der Stolperstein durchaus gerechtfertigt wäre, um sie in Ehren zu halten, Ein Gegenargument war, dass Christine Teusch im Vergleich zu anderen Opfern beispielsweise keine familiären Verluste erlitten hat und nicht ins Konzentrationslager musste und dass ein Stolperstein für sie dann möglicherweise unverhältnismäßig erscheinen könnte im Vergleich zu anderen Opfern des NS-Regimes, die deutlich „mehr“ gelitten haben. Dagegen ließ sich einwenden, was wieder für den Stolperstein sprechen würde, dass Leid und Schmerzen nicht relativiert und verglichen werden sollten. Wenn man sich deswegen gegen einen Stolperstein entscheiden würde, klänge das in meinen Ohren so, als hatte Frau Teusch „nicht genug gelitten“, um einen Stein zu verdienen. Kein passendes Argument, wie ich finde. Andererseits ließe sich natürlich anmerken, dass Angehörige von ermordeten Opfern sich verletzt fühlen könnten, würde Frau Teusch einen Stein bekommen, hingegen Verstorbene oder Gefangene des NS-Regimes nicht. Ein weiterer Punkt gegen den Stolperstein, wie ich finde, ist der Aspekt, dass Christine Teusch durch diesen möglicherweise „nur“ als Opfer in Erinnerung bliebe. Auch das sei nicht kleinzureden, wie ich hier betonen möchte, es geht lediglich um den Aspekt des moralischen Vorbilds, eine Funktion, die Frau Teusch möglicherweise mehr erfüllt als ihre Rolle als „Opfer“ und daher eher als Vorbild und weniger als Opfer in Erinnerung behalten werden sollte.
Nach ausgiebigen Diskussionen mit eben jenen Argumenten ergab eine kursinterne Abstimmung, dass die Mehrheit für einen Stolperstein gewesen wäre.
Anschließend erreichte den Kurs jedoch die Information, dass ein Fehler oder Missverständnis bezüglich der Quellen vorliegt. Die Literatur, die wir nutzten, um darzustellen, dass Frau Teusch sich in Schutzhaft befand, bedroht, fast ermordet, strafversetzt wurde, ist leider nicht ausreichend. Zwar wurden diese Tatsachen immer wieder, vor allem in Internettexten, aber auch in wissenschaftlichen Werkeln, so zitiert, jedoch fehlten immer Belege und Quellennachweise für diese Behauptungen. Erst eine Anfrage an das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln ergab, dass uns hier immer nur die Aussagen von Frau Teusch persönlich vorliegen: Aussagen, die sie nach Kriegsende in ihre Tagebücher schrieb, ihren Freunden und Bekannten mitteilte, welche sie wiederum in ihren Werken veröffentlichten. Jedoch liegen uns keinerlei wirkliche Beweise für ihre Worte vor, weder Berichte der Gestapo, noch sonstige offizielle, aussagekräftigen Dokumente; überdies sind die Aussagen von Christine Teusch teilweise nicht korrekt, teilweise wenig glaubhaft. „Das Leben in der beschützenden Klausur der Franziskanerinnen im Karolinenhospital hat sie später undifferenziert als „Schutzhaft“ dargestellt. Diese Stilisierung korrespondiert mit dem angeblichen Mordversuch der SS unmittelbar vor Einmarsch der Amerikaner“ (Schumacher/Hörold/Ostermann Nr. 1595).
Leider stellt diese Information den Fall Christine Teusch nochmal in ein anderes Licht. Das Urteil, dass wir glaubten fällen zu können, musste nun nochmal überdacht werden. Zudem konnten wir nun keinen Stolperstein für Christine Teusch verlegen, weil wir keine Nachweise mehr vorliegen hatten, die sie als Opfer des Nationalsozialismus ausweisen konnten.