Hannelore Bier

von Stella Kampen

Mindestens 463 Kinder und Jugendliche aus dem Rheinland, darunter 130 Schülerinnen und Schüler der Jawne, dem einzigen jüdischen Gymnasium im Rheinland, verließen 1939 das nationalsozialistische Deutschland und reisten nach Großbritannien aus. Die Rettung der Schülerinnen und Schüler vor der fast sicheren Deportation und Ermordung war Teil der sogenannten Kindertransporte.

Als Kindertransport, auch „Refugee Children's Movement“, wird die Ausreise von über 10.000 Kindern, die als „jüdisch“ im Sinne der Nürnberger Gesetze galten und von den Nationalsozialisten ausgegrenzt und verfolgt wurden, aus dem Deutschen Reich und aus von diesem bedrohten Ländern zwischen Ende November 1938 und dem 1. September 1939 bezeichnet. Der größte Teil der jungen Geflüchteten gelangte nach Großbritannien, aber auch in anderen Ländern gab es Aufnahmeprogramme für jüdische Kinder aus dem Deutschen Reich, zum Beispiel in Belgien, den Niederlanden oder in Schweden.

Fast alle der mit den Kindertransporten geretteten Kinder und Jugendliche haben ihre Eltern und andere Teile ihrer Familie in den Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nationalsozialisten verloren. So auch Hannelore Bier, die im Juli 1939 per Zug mit dem letzten Kindertransport der Jawne nach Manchester fuhr und ihre Eltern Julius und Betty Bier nie wiedersah.

Ich, Stella Kampen, bin 17 Jahre alt, Schülerin der Königin-Luise-Schule (KLS) in Köln und Teil des Projektkurses Geschichte des Abiturjahrgangs 2022. Der Projektkurs beschäftigt sich mit der Geschichte der KLS im Nationalsozialismus und in diesem Zusammenhang auch mit den jüdischen Opfern aus der Schulgemeinde, die unter dem nationalsozialistischen Regime gelitten haben. Das Ziel des Projektkurses ist es, die Erinnerung an jüdische Schülerinnen, welche die Königin-Luise-Schule während der NS-Zeit besuchten, und ihre Schicksale vor dem Vergessen zu bewahren.

Zu Beginn meiner Recherche waren mir nur Hannelores Name, ihr Geburtsdatum und die Erwähnung in den Zeugnislisten der KLS aus den Jahren 1936/37 und 1937/38 bekannt. Ihre Konfession war zunächst noch unklar, es gab nur vage Indizien dafür, dass es sich bei ihr um eine jüdische Schülerin gehandelt haben könnte. Ich kontaktierte verschiedene Archive und suchte in unterschiedlichsten Datenbanken im Internet nach Informationen zu Hannelore Bier. Bald stieß ich auf die "Survivors of the Shoah Visual History Foundation" – und dort fand ich ein Zeitzeugeninterview von Hannelore selbst aus dem Jahre 1996, in dem sie über ihr Leben berichtet. Zunächst hatte ich Schwierigkeiten, Zugriff auf das Interview zu bekommen, da ein Besuch in einer der wenigen Universitätsbibliotheken, die auf das Archiv dieser Stiftung Zugriff haben, notwendig war. Letztlich hat es aber funktioniert und in dem Zeitzeugeninterview habe ich eine große Menge an neuen Informationen gefunden.

Durch den Ausschluss jüdischer Schüler vom Schulunterricht, den plötzlichen Wechsel auf eine jüdische Privatschule und die sich kurz danach anschließende Ausreise mit einem Kindertransport änderte sich Hannelores Lebenssituation vollständig. Wie ging Hannelore mit der Situation um? Wie kam sie ohne ihre Eltern in einem ihr fremden Land zurecht? Konnte sie Kontakt zu ihnen halten? Sah sie ihren Bruder wieder? Welchen Beruf erlernte sie? All diesen Fragen gehe ich in der vorliegenden Projektarbeit nach, indem ich versuche, Hannelores Leben anhand von Dokumenten nachzuzeichnen.

Hannelores Familie

Hannelore Bier wurde am 22.07.1925 als Tochter von Dr. med. Julius Bier und seiner Ehefrau Betty Bier geboren. Mit ihren Eltern und ihrem Bruder Günter Heinz Bier (*4.1.1923) wohnte sie von 1925 bis 1935 am Hohenzollernring 19 in Köln und ist dann zum Salierring 27 gezogen. Ihr Vater wurde am 28.5.1887 als Sohn von Dagobert Bier und Lina Bär in Köln geboren und war zunächst Internist und Röntgenarzt. Während der NS-Zeit durfte er dann nur noch als „Krankenbehandler“ beim jüdischen Wohlfahrtsamt arbeiten und war Mitglied im Vorstand der Synagogen-Gemeinde Köln. Hannelores Mutter Betty Bier (geb. Gersmann) wurde am 21.03.1899 als Tochter von James und Hedwig Gersmann in Potsdam geboren.

Julius und Betty Bier mit Hannelore und Günther Heinz, Ende 1920er Jahre (NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln N 54,5)

Betty Bier hatte zwei Schwestern, Martha Frankenstein (geb. Gersmann) und Toni Prinz (geb. Gersmann), die auch beide gebürtig aus Potsdam waren. Martha Frankenstein (*18.08.1895) heiratete im November Julius Frankenstein (*27.05.1889). Gemeinsam hatten sie zwei Kinder, Carla Fleischer (geb. Frankenstein) und Heinz Frankenstein, die beide etwas älter als Hannelore waren. Die gesamte Familie Frankenstein ist zu einem unbekannten Zeitpunkt in die USA emigriert. Martha Frankenstein und Carla Fleischer beantragten beide die amerikanische Staatsbürgerschaft. Toni Prinz hatte gemeinsam mit ihrem Ehemann Alfred Prinz eine Tochter, Gerda Prinz. Im Jahre 1940 emigrierte auch die Familie Prinz in die USA.

Hannelore war die jüngste aller Cousins, weshalb sie von ihrem Opa besonders verwöhnt wurde. Ihre Großeltern James Gersmann und Hedwig Gersmann lebten in Potsdam und hatten dort ein Herrenbekleidungsgeschäft. Ihre Großmutter starb jedoch bereits früh und Hannelore kannte sie deshalb nicht richtig. Ab 1937 und mindestens bis 1939 wohnten Dagobert und Lina Bier, Hannelores Großeltern väterlicherseits, ebenfalls im Salierring 27. Über das weitere Leben der Großeltern von Hannelore liegen bis jetzt keine Informationen vor.

Hannelores Eltern mussten im Jahre 1941 ihr Wohnhaus am Salierring verlassen und in das Haus in der Rubensstraße 33 umziehen, welches zu dieser Zeit eines der Ghettohäuser in Köln wurde. Zu dieser Zeit war Julius Bier Vorsitzender der „Jüdischen Kultusvereinigung – Synagogengemeinde Köln e.V.“ und musste in dieser Funktion unter Druck durch die Gestapo alle neuen Zwangsmaßnahmen verkünden – unter anderem auch die Einweisung von jüdischen Bürgern in die Ghettohäuser.

Hannelore und ihr Bruder lebten zu diesem Zeitpunkt bereits in England. Sie hatten Köln mit den Kindertransporten der Jawne verlassen. Julius und Betty Bier wurden am 2. Oktober 1942 mit dem 7. Kölner Transport per Zug und Fußmarsch von Köln in das Ghetto Theresienstadt deportiert, welches sie am 3. Oktober 1942 erreichten. Von dort wurden sie beide am 19. Oktober 1944 in das Vernichtungslager Auschwitz verschleppt und sind dort verschollen. Ihre genauen Todesumstände sind nicht bekannt.

Dr. Julius Bier und Ehefrau Betty, 24. Mai 1939 (NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln N 54,2)
Kindheit und Schulzeit in Köln

Ab 1935 lebte die Familie in einem großen Haus am Salierring 27, welches in ihrem Besitz war, in einer der besten Gegenden Kölns. Das Haus hatte drei Stockwerke, einen Keller und war luxuriös eingerichtet. Julius Bier hatte seine Praxis, darunter ein Laboratorium und ein Bestrahlungszimmer, im Haus und der Rest wurde von der Familie bewohnt. Das Haus verfügte über viele Zimmer, darunter ein Herrenzimmer, drei Schlafzimmer, ein Gästezimmer, Küche und Esszimmer und ein Zimmer für die Hausangestellte. Hannelores Zimmer befand sich im obersten Stockwerk. Die Wohnsituation und der gut bezahlte Beruf des Vaters deuten darauf hin, dass die Familie in Wohlstand lebte. Außerdem besaß Julius Bier zwei weitere Hausgrundstücke in Köln.

Da Hannelores Eltern immer viel zu tun hatten, haben sich verschiedenste Kindermädchen um die Kinder gekümmert und sind auch ab und zu in den Ferien mit den Kindern in den Urlaub gefahren. Hannelore hat ihre Kindheit in Köln größtenteils positiv in Erinnerung. Sie und ihr Bruder wurden immer gut umsorgt und hatten ein gutes Leben. In ihrer Freizeit spielte Hannelore Tennis, traf sich mit Freunden oder ging z.B. Schlittschuh laufen. Das alles machte ihr viel Spaß, berichtet sie. Außerdem hat die Familie Bier oft ihre Verwandten in Potsdam besucht und viel Zeit dort verbracht.

Zu ihrem Bruder Günter Heinz hatte Hannelore als Kind ein gutes Verhältnis. Sie beschreibt ihren Bruder im Kindesalter als klug, gut in der Schule und immer etwas ernster als sie selbst. Er war bis 1937/38 Schüler des Gymnasiums Kreuzgasse, musste diese Schule dann aber gezwungenermaßen verlassen und ist, genauso wie Hannelore, zur Jawne gegangen. Im Gegensatz zu ihrem Bruder war Hannelore die Schule nicht so wichtig und sie war ab und zu eine „kleine Unruhestifterin“, wie sie selbst sagt. Hannelore beschreibt ihre Eltern als typisch deutsch. Sie hatte keine besonders enge Beziehung zu ihren Eltern, verstand sich aber gut mit ihnen.

Der jüdische Glaube spielte in der Familie Bier zwar eine Rolle, aber sie war nicht streng gläubig oder praktizierte den Glauben täglich. Man stand zur jüdischen Konfession und hat diese nie bestritten. Man ging an Feiertagen ab und zu in die Synagoge und die Kinder haben eine jüdische Grundschule und später die Jawne besucht. Außerdem war Julius Bier Mitglied im Vorstand der Synagogengemeinde Köln. Über seine genauen Tätigkeiten gibt es kaum Informationen. Der Synagogengemeinde Köln liegen keine Unterlagen aus den Jahren vor 1945 vor, da diese verschollen sind (siehe dazu aber weiter unten). Die Familie hat nur wenige Feste gefeiert und Traditionen gewahrt, wie z.B. Chanukkah, Pessach oder Rosh Hashanah.

Hannelore Bier besuchte als Kind die städtische jüdische Grundschule in der Lützowstraße in Köln. Jedoch hat sie selbst nicht viele Erinnerungen an ihre Zeit dort. Danach wechselte sie zur Königin-Luise-Schule in der St. Apern-Straße. Sie erscheint in der Zeugnisliste der KLS 1936/37 (Quinta – 6. Klasse) und 1937/38 (Quarta – 7. Klasse); demnach ist sie zu Ostern 1935 in die Sexta (5. Klasse) aufgenommen worden. Während der Zeit an der KLS hat Hannelore nach der Schule extern jüdischen Religionsunterricht gehabt.

Im Jahre 1933 trat das „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ in Kraft, das die Neuaufnahme jüdischer Schüler*innen und Student*innen an Schulen und Hochschulen auf 1,5% begrenzte und den Gesamtanteil jüdischer Schüler*innen und Student*innen auf 5% beschränkte. Hannelore und drei weitere jüdische Mädchen wurden alle im Jahre 1935 aufgenommen. Julius Bier war Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg und als überzeugter Deutscher sehr stolz auf sein Eisernes Kreuz. Er hatte das „Frontkämpferprivileg“, welches Hannelore die Aufnahme an der KLS ermöglichte. Auch die Väter der drei anderen jüdischen Mädchen in ihrem Jahrgang - Lieselotte Kramer, Ingelore Silberbach und Hilde-Edith Levi - waren Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg. Ohne diesen Status der Väter hätte höchstenfalls eines der vier Mädchen an der KLS aufgenommen werden dürfen.

Hilde-Edith beschreibt Hannelore in einem ihrer Tagebucheinträge: „Sie war klein, hatte dunkle braune Haare, trug eine Brille, sprach leise und errötete gelegentlich.“ Außerdem wurde sie „Flea“ genannt. Hannelore sagt, dass ihr zu dieser Zeit bewusst geworden ist, dass sie aufgrund ihres jüdischen Glaubens anders behandelt wurde. Sie durfte nicht der Engel beim Krippenspiel sein und konnte nicht so wie ihre Klassenkameradinnen dem „Bund Deutscher Mädel“ beitreten. Das war für sie zu der Zeit belastend, da sie an vielen Freizeitaktivitäten, wie z.B. Zeltlagern, Sportveranstaltungen und den ganzen anderen „spaßigen Dingen“ nicht teilnehmen konnte und deshalb gerne im BDM gewesen wäre.

Noten und Zeugnisbemerkungen lassen nicht erkennen, dass Hannelore oder eine ihrer drei Klassenkameradinnen anders bewertet worden wäre als die nicht-jüdischen Schülerinnen. Nach Aussage der Zeugnisliste 1937/38 wurde sie Ostern 1938 auch problemlos noch in die nächste Klasse (Untertertia) versetzt. Im neuen Schuljahr 1938/39 ist dann aber kein einziges jüdisches Mädchen mehr an der KLS bezeugt - also vor dem „Erlass zum Schulunterricht an Juden“ vom November 1938, mit dem jüdischen Kindern der Besuch nichtjüdischer Schulen vollständig verboten wurde. Hannelore musste also die KLS von einem auf den anderen Tag verlassen und ging von nun an auf die jüdische Privatschule Jawne – gemeinsam mit ihren drei Klassenkameradinnen von der KLS. Die Jawne war das einzige jüdische Gymnasium in Köln und im Rheinland und befand sich nur eine Straßenecke von der damaligen KLS entfernt ebenfalls in der St.-Apern-Straße.

Hannelores Mitschülerin Ingelore Silberbach war die erste, die ins Ausland floh. Zum Andenken hatten sich alle ihre Mitschülerinnen aus der Jawne-Klasse in ihrem Poesiealbum verewigt.

Klassenfoto der Jawne 1938 (Lieselotte in der hinteren Reihe erste von rechts, Ingelore fünfte (?) von rechts)

Auf diesen Seiten finden wir auch die Namen ihrer Klassenkameradinnen von der KLS – Hannelore Bier, Hilde Edith Levi und Lieselotte Kramer. Und aus dieser Zeit stammt auch ein letztes Klassenfoto, das uns von den Familien sowohl von Ingelore als auch von Lieselotte Kramer zur Verfügung gestellt wurde.

Die neue Klassengemeinschaft fiel allerdings schnell auseinander, denn alle versuchten nun ins Ausland zu entkommen. Ingelore war die erste aus der ehemaligen KLS-Klasse, der dies gelang: Am 21. September 1938 wechselte sie auf ein Internat in England, das bereits ihre Schwester besuchte. Wenig später folgte Lieselotte Kramer, die am 13.12.1938 mit einer jüdischen Hilfsorganisation nach Belgien entkam. Hannelore und Hilde Edith Levi blieben auf der Jawne, für sie wurden die Kindertransporte nach England zur Rettung.

Kindertransporte der Jawne und Aufenthalt in Großbritannien
Schulleiter Erich Klibansky mit Mädchengruppe der Jawne im Kölner Bahnhof, Sommer 1939 (Sicher handelt es sich bei der Gruppe auf dem Foto um die Klasse von Hannelore kurz vor der Abfahrt; Bildquelle: Lern- und Gedenkort Jawne))

Als Kindertransport wird die Ausreise von Kindern und Jugendlichen, allein und ohne ihre Eltern, aus dem nationalsozialistischen Machtbereich im Zeitraum zwischen November 1938 und September 1939 bezeichnet. Die britische Regierung gestattete die Einreise von Kindern bis zum Alter von siebzehn Jahren, die nach den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 diskriminiert und verfolgt wurden und nun Zuflucht in Großbritannien finden konnten. Organisiert wurden die Kindertransporte vor allem durch das Refugee Children´s Movement (RCM). Lokale Hilfskomitees organisierten die Unterbringung in Gastfamilien, Hostels sowie den Schulunterricht und das Freizeitprogramm für die Kinder. Insgesamt wurden über 10.000 Kinder und Jugendliche im Rahmen der Kindertransporte in Großbritannien aufgenommen, darunter mindestens 463 Kinder und Jugendliche aus dem Rheinland.

Nach dem Novemberpogrom 1938, bei dem auch die Jawne verwüstet wurde, plante Dr. Erich Klibansky, die gesamte Jawne mit Kindertransporten nach Großbritannien zu transferieren. Erich Klibansky war seit 1929 der letzte Schulleiter der Jawne. Er war schon früh von der fehlenden Perspektive der Juden im nationalsozialistischen Deutschland überzeugt und förderte deshalb vor allem den fremdsprachigen Unterricht an seiner Schule, um seine Schüler auf die Auswanderung vorzubereiten. Im Verlaufe des Jahres 1939 gelang es ihm, mit vier Kindertransporten etwa 130 Schülerinnen und Schüler der Jawne nach England zu schicken und so vor Deportation und Ermordung zu retten.

Hannelore Bier beschreibt Dr. Klibansky als eine sehr weitsichtige und wundervolle Person, der sie ihr Leben verdankt. Noch im November 1938 verfasste Klibansky ein Rundschreiben an die Eltern, dem eine Verpflichtungserklärung beilag, mit der die Eltern ihre Kinder für die Verlegung anmelden konnten. Bereits am 8. Dezember hatten die Eltern von 295 Kindern die Erklärung unter­schrieben und waren bereit, sich trotz aller Unklarheiten von ihren Kindern zu trennen. Das macht deutlich, wie groß die Verzweiflung der Eltern in diesen Tagen gewesen sein muss. Darunter waren auch Julius und Betty Bier, die bereit waren, ihre Tochter und ihren Sohn nach England zu schicken. Hannelores Eltern, insbesondere Julius Bier, hatten selbst nie in Betracht gezogen, ihre Heimat Deutschland zu verlassen, in ein fremdes Land zu ziehen und alles in Köln aufzugeben. Sie waren in dem Glauben, dass alles vorbeigehen und ihnen hoffentlich nichts passieren würde.

Hannelores Bruder fuhr am 9. Mai 1939 mit dem dritten Transport nach Liverpool und lebte, nachdem er vier Wochen in einem Ferienheim der Liverpooler Synagogen­gemeinde untergebracht worden war, in einem Hostel in der Linntet Lane Nr.19.

Hostel in Manchester (Bildquelle: NS-Dokumentationszentrum Köln)

Im Juli 1939 reiste Hannelore per Zug mit dem vierten und letzten Kindertransport der Jawne zusammen mit etwa 25 anderen Mädchen unter der Leitung von Hans Joseph Heinemann nach Manchester und bezog am 21.07.1939, einen Tag vor ihrem 14. Geburtstag, ein Hostel in der Waterloo Road 391, das vom Ehepaar Kahn aus Altona geleitet wurde.

Die Eltern mussten die komplette Ausstattung dieser Hostels übernehmen. So wurden zum Beispiel Möbel verschifft. Die Ausreise funktionierte problemlos. Die Eltern brachten ihre Kinder zur Schule, mussten sich dort von ihnen verabschieden und sind nicht mit zum Bahnhof gekommen. Ingelore Silberbach und Lieselotte Kramer hatten die Jawne schon vorher verlassen und waren auf anderem Wege ins Ausland entkommen. Mit demselben Transport fuhr aber auch Hannelores Klassenkameradin Hilde Edith Levi nach Manchester, und in ihren Erinnerungen findet sich ein Bericht über ihre Reise. Auch sie wurde zunächst im Hostel in der Waterloo Road untergebracht (siehe dazu die Biographien der drei anderen Mädchen in diesem Gedenkbuch).

Mit der Ausreise änderte sich Hannelores Leben schlagartig und viele Veränderungen kamen auf sie zu. Hannelore dachte aber, dass sie ihre Eltern bald wiedersehen würde und es nur ein vorübergehender und kein langfristiger Aufenthalt wäre, wie ein langer Urlaub. Außerdem war sie in einer Gruppe von 25 Mädchen, die alle das Gleiche durchmachten. Das machte die Trennung ein bisschen leichter. Auch für viele andere Schülerinnen waren das Zusammensein und der Zusammenhalt sehr wichtig. Dies gab ihnen Kraft, die Trennung von den Eltern und den Verlust der familiären Wärme zu bewältigen.

Die Mädchen kamen am Freitagabend im Hostel in Manchester an, welches in einem Gewerbegebiet lag. Das Leben dort war anders, als sie erwartet hatten. Das Hostel war sehr jüdisch orthodox und es gab strikte Regeln. Daran mussten Hannelore und auch die meisten anderen Mädchen sich gewöhnen, da sie dies von zu Hause nicht kannten und nun Schwierigkeiten mit der neuen Lebenssituation hatten. Das Hostel war ein sehr altes, heruntergekommenes Gebäude, in dem es keine Lampen, sondern nur Kerzen gab.

Mit der englischen Sprache kam Hannelore gut zurecht. Sie erlernte diese schnell, da sie auch schon vorher etwas Englisch konnte und es in der Schule unterrichtet worden war. In der Öffentlichkeit sollten die Mädchen möglichst kein Deutsch sprechen, um nicht aufzufallen. Die Schulsituation in Manchester war jedoch schwierig. Die Mädchen besuchten eine Grundschule, obwohl sie schon einige Jahre auf eine weiterführende Schule ge­gangen waren. Auch Hilde Edith beschwerte sich in einem Brief an ihre Eltern darüber, denn sie sah ihren Plan, Medizin zu studieren, dadurch gefährdet.

Eine weitere Veränderung in Hannelores Leben war die finanzielle Lage. Sie war plötzlich arm und nicht gewöhnt daran, nicht viel Geld zur Verfügung zu haben. Außerdem musste sie im Haushalt mithelfen, kochen, putzen und waschen. In ihrem Elternhaus hatte das immer die Hausangestellte übernommen. Hannelore versuchte jedoch, die Veränderung des Lebensstils zu akzeptieren und das Beste aus der Situation zu machen. Es bildeten sich kleine Cliquen und es gab Gruppenaktivitäten, wie zum Beispiel das Einüben und Aufführen von Theater­stücken. Hannelore las viel und generell haben sich alle gut verstanden.

Von den Einheimischen in England wurden die Mädchen laut Hannelore eher ab­weisend behandelt. Aber auch sie selbst sympathisierte nicht sonderlich mit den Engländern. Die Mädchen waren nicht wirklich ein Teil der Ortsgemeinschaft und haben wenig mit ihr interagiert. Sie hatten aber über die Synagoge Kontakt zur dortigen jüdischen Gemeinde. Diese mochte die Mädchen sehr, da die Lebensweise im Hostel orthodox war.

Zu ihren Eltern stand sie während dieser Zeit im mäßigem Briefkontakt, in dem nur wenige Worte gewechselt werden konnten. Zu ihrem Bruder hatte sie während der Zeit in England auch nur sehr wenig Kontakt, jedoch haben sie sich ab und zu getroffen.

Als der Zweite Weltkrieg am 1. September 1939 ausbrach und auch Manchester betroffen war, wurden die Mädchen zeitweilig nach Blackpool, Lancashire evakuiert. Dort wurden sie in verschiedenen Gastfamilien untergebracht, die die Schülerinnen für Geld aufnahmen. Zu ihrer Gastfamilie hat Hannelore jedoch keine Beziehung aufgebaut und nur wenig Kontakt gehabt. Sie fühlte sich dort nicht wohl, denn das Essen war miserabel und die Gastfamilie beschwerte sich, wenn Hannelore zum Beispiel zu viel Wasser verbrauchte. Auch die Schule in Lancashire hat Hannelore als nicht besonders gut in Erinnerung. Aber auch in Lancashire waren sie stets eine Gruppe, die sich bereits seit einiger Zeit kannte, viel zusammen durchgemacht hatte und zusammenhielt.

Als Hannelore zurück in Manchester waren, konnte sich die Mitarbeiterin des lokalen Hilfs­komitees nicht länger um die Kinder kümmern. Nun mussten sie und die anderen Mädchen in Manchester allein klarkommen, sich einen Job suchen und selbst ihren Lebensunterhalt finanzieren. Hannelore ging noch zur Schule und war die Jüngste unter den Mädchen. Deshalb war es sehr schwer für sie, einen Job zu finden. In ihrem ersten Job war sie wie viele andere Mädchen als Schneiderin tätig. Dieser Job gefiel ihr jedoch nicht und sie hörte damit auf. Anschließend arbeitete sie in einer Teefabrik, wo sie aber entlassen wurde. Hannelore betont, dass sie immer ein „Rebell“ war, ihr ganzes Leben auf eigenen Beinen stehen wollte und immer mutige Ent­schei­dungen für sich getroffen hat. Sie wollte eigentlich Ärztin werden, so wie ihr Vater, erkannte aber, dass das kriegsbedingt nicht möglich war, und musste ihren eigenen Weg finden. Sie hatte einen dritten Job im Büro, wo sie mit Stenografie und Schreib­maschine arbeitete. Dies lernte sie in einer Schule. Aber auch diese Tätigkeit übte sie nur kurz aus.

Im Jahre 1942 hat Hannelore angeblich auch vom Tod ihrer Eltern erfahren. Sie sagt in dem Zeitzeugeninterview, dass sie zu diesem Zeitpunkt nur wusste, dass ihre Eltern in einem Konzentrationslager umgekommen sind. Hannelore hatte diese Nachricht aber schon erwartet, da auch vorher schon viele andere Mädchen über den Tod ihrer Eltern informiert worden waren. Was das für ein 17-jähriges Mädchen bedeutet haben muss, ist kaum vorstellbar. In dieser Situation hat ihr erneut das Zusammen­sein mit den anderen Mädchen Kraft gegeben und sie war froh, dass sie in dieser Situation nicht allein war.

Allerdings muss man hier skeptisch sein. Konnte sie – angesichts von Geheimhaltung und kriegsbedingten Nachrichtensperren – wirklich eine solche Nachricht bekommen? Oder hat sie nur, wie auch Hilde Edith, von der Deportation ihrer Eltern erfahren und es handelt es sich um eine spätere Rückprojektion?

Über eine zionistische Organisation kam Hannelore bis zum Kriegsende in einem Kibbuz-ähnlichen Zentrum in Buckingham, Buckinghamshire unter. Laut Karla Yaron, einer Mitschülerin (siehe oben das Foto aus der Waterloo Road), die auch dort war, handelte es sich um die in Deutschland gegründete, religiös-zionistische Jugendbewegung BACHAD, die an verschiedenen Orten in England landwirtschaftliche Ausbildungsprogramme organisierte, mit dem Ziel, junge Juden und Jüdinnen (zumeist Flüchtlinge aus Europa) auf die Aus­wan­derung nach Palästina vorzubereiten. Neben Landwirtschaft und Handwerk wurden häufig auch Dinge im Zusammenhang mit der jüdischen Tradition gelehrt. Die Bezeichnung für diese Programme war Hachschara.

In diesem Zentrum lebte Hannelore jedoch nur, weil es alle anderen auch taten. Sie selbst wollte nie nach Israel gehen oder in einem Kibbuz arbeiten. Deshalb entschied sie sich zu fliehen.

Leben nach dem Krieg – zurück in Deutschland

Nach Kriegsende floh Hannelore mitten in der Nacht per Anhalter auf einem Milch­wagen von dem Zentrum in Buckinghamshire nach London zum War Depart­ment mit dem Wunsch, zurück nach Deutschland zu reisen. Da sie keine Familie mehr dort hatte, gab sie an, dass sie dort arbeiten wollte. Nach einer Befragung und einem Test erhielt sie die Erlaubnis, nach Deutschland zurückzukehren.

In Deutschland wohnte sie in einem Ort in der Nähe von München. Dort arbeitete sie drei Jahre lang für das American War Department (Civil Censorship) als Dolmet­scherin und Übersetzerin. Sie hat dort zwar nicht besonders viel verdient, diese Zeit aber sehr genossen.

In diesem Zeitraum fuhr sie mit dem Zug in ihre Geburtsstadt Köln. In ihrer alten, jetzt völlig zerstörten Heimat mietete sie sich ein Auto und besuchte Orte, die sie aus ihrer Kindheit noch in Erinnerung hatte. Sie hegte keine Rachegefühle, sah aber die Zer­störung als gerechte Strafe für die Nazi-Verbrechen. In Köln kannte sie niemanden mehr und hat keine alten Bekannten getroffen. Außerdem fuhr sie für einen Tag zum Kriegsverbrecherprozess nach Nürnberg (20.11.1945 – 1.10.1946), und ver­folgte dort die Aussagen von Julius Streicher, der u.a. das judenfeindliche Hetzblatt „Der Stürmer“ verantwortet hatte. Des Weiteren war sie auch im Konzentrationslager Dachau und in dem dortigen Museum. Ihr Eindruck war, dass die Deutschen den Holocaust leugneten bzw. nichts davon gewusst haben wollten. Im Gegenteil, alle Deutschen hätten auf einmal einen „jüdischen Großvater“ gehabt. Diesen Eindruck hat sie durch verschiedene Interviews in ihrem Job gewonnen.

Letztlich kam Hannelore zu dem Entschluss, dass sie nichts mehr mit Deutschland und den Deutschen zu tun haben und auch nicht mehr Deutsch sprechen wollte. Sie hatte das Gefühl, dass sie auch alleine zurechtkommen konnte. Sie spürte ein großes Selbstvertrauen und vertraute wenig auf Andere. Auch eine neue Sprache zu er­lernen, war für sie eine Aufgabe, aber kein Hindernis. Sie wollte sich an einem Ort niederlassen, wo sie Wurzeln schlagen und dauerhaft leben konnte.

Auswanderung in die USA

Eine Freundin und Arbeitskollegin fand einen Bürgen in den USA, so dass sie 1948 nach Kansas City, Missouri auswandern konnte. Diese Person bürgte dann auch für Hannelore, so dass sie ihr nach Kansas City folgen konnte. Sie hatte kein Problem, dort ein neues Leben zu beginnen, da sie dies schon oft getan hatte. Gemeinsam mit ihrer Freundin bezog sie eine Wohnung. In ihrem ersten Job arbeitete sie im Vertrieb und verkaufte Zeitschriften von Haustür zu Haustür. Jedoch kündigte sie diesen Job. Danach arbeitete sie bei der örtlichen jüdischen Gemeinde. Die Arbeit war anstrengend, und bei dem was sie nicht konnte, täuschte sie vor, dass sie es konnte.

Über ihr weiteres Leben liegen nur noch vereinzelte Informationen vor. Am 24. März 1949 heiratete sie im Alter von 23 Jahren Fred L. Stern in Kansas City. Das Ehepaar wohnte 1951 in der 420 West 46th Terrace. Später übersiedelten sie nach Kalifornien. Durch ein Rückerstattungsverfahren lässt sich erschließen, dass Hannelore 1961 in der 315 Rosebay St. in Anaheim wohnte. Zu diesem Zeitpunkt war sie Hausfrau.

Im Juli 1971 ließen sich Hannelore und Fred Stern scheiden. Danach heiratete sie zu einem unbekannten Zeitpunkt Sydney Wishni. Im Dezember 1995 wohnte sie in San Diego, 18195 Corte de Aceitunos.

Hannelore hat drei Töchter: Mckenna, Julie und Barbara. Sie wurden alle nach jüdischen Wertvorstellungen erzogen und heirateten teils nicht-jüdische Männer.

Hannelore selbst glaubte nicht an Gott, fühlte sich dem Judentum aber immer noch verbunden, wahrte das jüdische Erbe und war in der jüdischen Kultur verwurzelt. Hannelores Botschaft ist, dass „schon gegen die kleinsten Anzeichen von Rassismus vorgegangen werden muss und es in der Welt keinen Platz für Hass geben sollte."

Über ihr Leben nach 1995 und auch ob Hannelore noch lebt, liegen keine Informationen vor.

Fazit

Mehrfach in ihrem Leben musste Hannelore Bier in einem neuen Land von vorne beginnen, zunächst in England, dann in Deutschland und schließlich in den USA. Auslöser dafür waren der staatlich propagierte Antisemitismus und die entsprechen­de rassistische Gesetzgebung des NS-Regimes. Dass sie es ohne ihre Eltern in so jungen Jahren geschafft hat, den Lebensmut nicht zu verlieren, insbesondere als sie 1942 vom Tod ihrer Eltern erfuhr, zeigt, dass sie immer eine sehr starke Persönlichkeit war. In dem Zeitzeugeninterview ist zu sehen und zu hören, dass sie trotz ihres tragischen Schicksals nie aufgegeben hat.

Die Art und Weise, wie Hannelore mit ihren Schicksalsschlägen umgegangen ist, hat mich sehr beeindruckt. Die Tatsache, dass unendlich viele Jüdinnen und Juden in einer ähnlichen Situation waren, ist unvorstellbar. Ich hoffe sehr, dass ich mit dieser Projektarbeit einen Beitrag dazu leisten konnte, dass Hannelore und ihre Familie nicht vergessen werden.

Danksagung

An dieser Stelle möchte ich mich bei den Personen bedanken, die mich bei meinen Recherchen unterstützt haben. Ich danke Birte Klarzyk vom NS-Dokumentationszentrum, die mir Informationen und Fotos zur Verfügung gestellt hat. Auch danke ich den Mitarbeitern des „Bundesamts für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen“ und des Landesarchivs NRW, durch die ich Zugang zu hilfreiche Dokumenten bekommen habe. Des Weiteren danke ich Adrian Stellmacher vom Lern- und Gedenkort Jawne und der Synagogengemeinde Köln für ihre Hilfe.

 

 

Quellen:

Zeitzeugeninterview mit Hannelore Bier der USC Shoah Foundation, 22. März 1996

(Shoah Foundation Visual History Archive Online: https://vhaonline.usc.edu/viewingPage?testimonyID=13554&returnIndex=0);

Leftovers. Erinnerungen ehemaliger Kölner Jüdinnen und Juden (https://leftovers.eu/);

Winckel, Änneke / Lissner, Cordula, Die Kinder vom Schulhof nebenan. Zur Geschichte der Jawne 1919-1942, Köln 2009

 

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