Liselotte Sussmann selbst ist die wahrscheinlich tragischste Figur in dieser Geschichte. Ihre komplette Kindheit lang litt sie unter der Hetze und der Erniedrigung durch die deutsche Gesellschaft und das NS-Regime. Sie wurde gedemütigt und bloßgestellt, und zwar nur, weil ihr Vater ein Jude war. Ihre Familie verlor ihr gesamtes Hab und Gut und rutschte in den finanziellen Ruin ab. Schließlich wurde sie mit sieben Jahren durch ein Verbot, in Schwimmbäder, Kinos oder zu Konzerten zu gehen, komplett aus der Gesellschaft und dem sozialen Leben ausgeschlossen. Schon in jungen Jahren ging sie nicht nur unter Geheimhaltung ihrer Herkunft zur Schule, sondern war zudem gezwungen, ein halbes Jahr lang versteckt auf einem Dachboden in einem Pfarrhaus zu leben, in dem Wissen, dass sie und ihre Familie als Feinde der Gesellschaft betrachtet wurden, ähnlich wie gesuchte Verbrecher. Dabei hatten sie gar nichts verbrochen. Liselotte zog sich fast zwei Jahre lang jeden Morgen ein Kopftuch an, damit in der Bahn niemandem ihre schwarzen Haare auffielen, aus der Angst, man könne sehen, dass sie nicht "arischer" Abstammung war. Was dieses Mädchen in der Kindheit alles durchgemacht haben muss, ist unbegreiflich schrecklich.
Doch glücklicherweise hatte sie diese Phase ihres Lebens überstanden und ist nicht, wie circa sechs Millionen andere Juden, von den Nazis getötet worden. Die Tochter der besten Freundin Liselottes erinnert sich gut daran, wie Liselotte früher häufig zu Besuch kam. Ihr Eindruck war, dass sich Liselotte durch ihre schreckliche Vergangenheit keineswegs hat beirren lassen. Im Gegenteil, sie war, laut Aussage der Freundin, eine sehr starke Frau geworden, die stets eine gewisse Eleganz ausstrahlte. Liselotte hatte einen ausgefallenen Geschmack und liebte es, sich zu Großereignissen sehr kreativ und mit viel Stil zu kleiden. Gemeinsam mit der Freundin zogen sich die beiden gerne für Künstlerbälle oder Karnevalsveranstaltungen auffallend an. Trotz der schrecklichen Kindheit war Liselotte eine sehr kultivierte und auch extrovertierte Persönlichkeit geworden, die stets einen gewissen Stolz ausstrahlte. Auch war Liselotte nicht vereinsamt, sie hatte nach dem Krieg viele Freundinnen, die sie bis zu ihrem Tod begleitet haben.
Über ihren Selbstmord und die Beweggründe möchte ich mir nicht anmaßen zu spekulieren. Dieses Vorhaben bzw. den Wunsch danach besprach Liselotte wohl nicht einmal mit ihrer besten Freundin. Sowohl sie als auch ihre Tochter konnten über die Komplexität der Motive nur Vermutungen anstellen, die in die Privatsphäre von Liselotte Sussmann gehören und dort bleiben sollen.
Allerdings gibt es Vergleichsfälle, die der Projektkurs Geschichte im Zuge der Recherche zu Biographien anderer jüdischer Schülerinnen der Königin-Luise-Schule entdeckt hat. Beispielsweise beging der Bruder von Elsie Berg, welche bereits einen Stolperstein vor unserer Schule bekommen hat, im Jahre 1937 Selbstmord, mutmaßlich als Reaktion auf die Diskriminierung.
Elsbeth von Almen ist ein weiteres Beispiel. Sie war, wie Liselotte, eine Kölner “Halbjüdin”, bei der man annehmen würde, dass sie weniger bedroht war als eine “Volljüdin”, doch dem war nicht so. Auch Elsbeth lebte lange Zeit im Untergrund und schrieb eine bemerkenswerte Biographie darüber. Sie heißt “Köln Appellhofplatz”. In dieser steht: „Das Leben in der damaligen Zeit zu schildern ist kaum möglich. Die täglichen (Bomben-) Angriffe waren mir völlig gleichgültig geworden. […] Aber die Angst – es gibt keinen Ausdruck dafür - verhaftet, abgeschleppt zu werden, die ist nicht zu schildern. Das kann nur der nachfühlen, der in der gleichen Lage war.“ Später schreibt sie noch: „12 Jahre Diskriminierung, Verfolgung fallen nicht wie Fesseln ab. Sie tragen unauslöschbare Spuren“.
Auch Anni Adler, die ebenfalls Kölner Jüdin war, gab ein sehr lesenswertes Interview in dem Buch: “Ich habe Köln doch so geliebt”. Bei dieser sehr emotionalen Lebensgeschichte heisst es: “[Die Schülerinnen] versteckten mir die Butterbrote oder, wenn sie irgendetwas in der Klasse getan hatten, schoben sie es mir in die Schuhe. Einige Mädchen verprügelten mich auch. Ich habe wirklich sehr gelitten in dieser Zeit.”
Es ist anzunehmen, dass solch eine furchtbare Kindheit auch bei Liselotte ihre Spuren hinterlassen hat, schließlich war sie in einer sehr ähnlichen Lage wie Elsbeth von Ameln und Anni Adler. Der alleinige Grund wird es sicherlich nicht gewesen sein, aber eine Kindheit in Angst und Diskriminierung, die ein normales Erwachsenwerden nicht erlaubt, wird sicherlich Ihren Teil dazu beigetragen haben.
Dennoch ist alles in allem sicherlich festzuhalten, dass Liselotte Sussmann zwar eine sehr tragische Person war, aber auch eine der stärksten, die ich “kenne”. Sie hat nicht nur diese schreckliche Kindheit überstanden, sondern sie hatte weiter Spaß am Leben und genoss es, mit Freundinnen auszugehen und kreative Kleidung zu tragen. Sie war eine unfassbar starke Frau.
Für mich war es etwas ganz besonderes, mich so intensiv mit dem Leben eines Menschen auseinanderzusetzen. Durch die ganze Recherche würde ich mittlerweile behaupten, dass ich Liselotte Sussmann richtig kennen gelernt habe, ohne sie jemals getroffen oder gesehen zu haben, geschweige denn zur selben Zeit wie sie gelebt zu haben. Besonders geholfen hat dabei mein persönliches Gespräch mit einer Kontaktperson. Sie hat die Auseinandersetzung und somit die ganze Arbeit auf eine viel persönlichere Ebene heben können. Andernfalls hätte ich lediglich über Liselottes Leben berichten können und ausschließlich Vermutungen über sie und ihren Charakter anstellen können. Für diese tolle Möglichkeit möchte ich mich bei Ihr herzlich bedanken!
Ich möchte mich ebenfalls bei Frau Annemarie Röhrig bedanken. Ihre bereits durchgeführte Recherche war eine große Hilfe und sie war sehr hilfsbereit bei meinen Nachfragen.
Die Erinnerung an Liselotte ist keine Bürde, sondern das Recherchieren ihrer Lebensgeschichte war eine sehr aufschlussreiche Erfahrung für mich. Betrachtet man Einzelschicksale, bekommen die Taten des NS-Regimes und die Zahl der ermordeten Juden im Holocaust einen weitaus größeren Schrecken.
Dieses Schicksal war ein ganz besonderes. Das Leben der Liselotte Sussmann.