Familie Hecht

Die Vernichtung einer jüdischen Großfamilie aus dem Belgischen Viertel in Köln

von Paula Bellinghausen und Dirk Erkelenz

 

“Als ich diese Briefe zum ersten Mal las, war ich von meinen Gefühlen völlig überwältigt. Noch nie zuvor habe ich gleichzeitig Schmerz und Glück empfunden. Schmerz, Trauer und Schwere ausgelöst durch die Schicksale der einzelnen Personen - und Freude, Glück und Hoffnung verursacht durch den Besitz dieser kostbaren Briefe und der sich daraus ergebenden Möglichkeit, diesen Menschen Gehör zu verschaffen.”

Paula Bellinghausen, im Dezember 2021

 

 

Begonnen hatten wir im Projektkurs Geschichte 2021 damit, die Lebensgeschichte unserer ehemaligen jüdi­schen Mitschülerin Hilde Edith Levi zu erforschen (und dreier Mitschülerinnen), die von 1935 bis 1938 die Königin-Luise-Schule besuchte. Bald konnten wir Kontakt zu Nachkommen gewinnen, zu Hilde Ediths Großcousine Judy Cook und ihrem guten Freund Bill McCartney. Sie machten uns die Erinnerungen zugäng­lich, die Hilde in hohem Alter niedergeschrieben hat. Außerdem stießen wir auf einen umfangreichen Brief­wechsel aus den Jahren zwischen 1938 und 1944. Im Kern handelt es sich um die Korrespondenz zwischen Heinz Herbert Hecht – Hildes Kölner Cousin, der im Sommer 1938 mit der Jugend-Alijah nach Palästina ge­gangen war – und seinen Eltern Hermann und Margarete Hecht, Hildes Onkel und Tante. Daran beteiligt wa­ren aber auch zahlreiche andere Personen, unter anderem Hilde selbst und ihre Eltern. Über diese Dokumente erschloss sich uns ein gewaltiger Familienzusammenhang mit einem „Kölner Kern“ von mehr als 20 Perso­nen, um den sich viele weitere Familienzweige in anderen Städten gruppierten; insgesamt ließen sich über die Dokumente mehr als 100 Personen fassen.

Die Briefe mussten wir im Projektkurs zunächst transkribieren, und so begegneten uns diese Menschen ganz intensiv und unmittelbar, in ihrer ganzen Individualität, mit ihren Eigenarten, ihren Gedanken und Emotio­nen, ihrem sozialen Miteinander. Wir konnten tief in ihren Alltag schauen und in erschütternder Weise ver­folgen, wie ihre Welt durch die nationalsozialistische Verfolgung zerstört wurde. In den letzten Briefen deu­tet sich dann bereits das schreckliche Schicksal an, das weite Teile dieser Familie erfasste. Denn an der Großfamilie Hecht wird exemplarisch das Ausmaß deutlich, in dem der Holocaust nicht nur einzelne Indivi­duen vernichtete, sondern ganze Familien und ihr soziales Umfeld zerstörte.

Mit den folgenden Kurzbiographien möchten wir die Erinnerung bewahren – an die Menschen, denen wir so nahe gekommen sind – und an ihre Schicksale, die uns so berührt haben.

 

Im Frühjahr 2022 haben wir zudem in der Schulgemeinschaft nach Interessierten gesucht, die eine Patenschaft für einen Stolperstein übernehmen möchten. Auf unseren Aufruf hin haben sich in kürzester Zeit so viele Familien gemeldet, dass wir nun für alle Personen aus der Kölner Großfamilie einen Stolperstein vor dem letzten frei gewählten Wohnort verlegen lassen können.

Wir freuen uns sehr, dass die Familie so auf ewig in Erinnerung bleibt, und danken allen Beteiligten von Herzen.

Die Kölner Kernfamilie

Lieber Heinz ! […] Von den Tanten Gertrud, Recha, Linka und Irma und allen anderen Verwandten, wie Onkel Bruno, Hermann Levi, Onkel Josef, Fräulein Kniebel, Deinem Vetter Brunetto und Deinen Cousinen Hilde-Edith, Irma, Juanita und Ruth Hecht soll ich Dich recht herzlich grüßen. Sie alle denken oft an Dich und sprechen viel von Dir. […] Leb noch recht wohl und empfange viele, innige Grüße von der lieben Mutter und besonders von deinem Dich liebenden Vater.

(Brief vom 21. August 1938)

 

Hilde und Heinz wuchsen in einer sehr großen Familie auf. Ihre Eltern hatten jeweils sechs Geschwister, die alle im Belgischen Viertel oder dem näheren Umfeld lebten. Bereits im ersten Brief an Heinz nach dessen Abreise nach Palästina werden sie fast alle genannt. Die anderen – Onkel John und Tante Sofie, Onkel Moritz und Tante Ida – erscheinen dann im übernächsten Brief (vom 29. August 1938). Insgesamt umfasste der “Kölner Kern” 21 Personen. Sie bildeten das Umfeld, in dem sich Hilde und Heinz bewegten und mit dem sie – wenn auch jeweils mit gewissen Abstufungen – regelmäßigen und unmittelbaren Kontakt hatten.

 

 

Johanna und Gertrude Hecht – Das Zentrum der Familie

Johanna Feige (* 1855) war die „Stammmutter“ der Familie Hecht. Sie stammte wie ihre (mindestens) zwei Brüder Michael und Julius aus der preußischen Provinz Posen, aus einer großen jüdischen Familie, unter de­ren Vorfahren sich mehrere Rabbiner finden. Sie heiratete Heymann Hecht (* 1833), mit dem sie insgesamt zwölf Kinder bekam, von denen sieben überlebten. Alle Kinder wurden in Kepno (Posen) geboren, wo die Familie offensichtlich dauerhaft ansässig war. Heymann starb 1902, drei Jahre nach der Geburt der jüngsten Tochter Irma. Zu einem späteren Zeitpunkt siedelte die ganze Familie nach Köln über. Ob sie geschlossen umzog oder sukzessive, wissen wir nicht; sicher bezeugt sind uns die ersten Familienmitglieder in Köln ab dem Jahr 1910.

Johanna Hecht bezog eine große Wohnung im Hochparterre in der Werderstraße 29. Hier lebte sie, gemein­sam mit ihrer ältesten Tochter Gertrude, bis zu ihrem Tod 1938. Diese Wohnung war das Zentrum und der Stammsitz der Familie. Wer noch keine Wohnung hatte, wohnte zunächst hier, bis sich etwas Eigenes fand; wer in Schwierigkeiten geriet, fand hier ebenfalls eine Zuflucht. Hier war auch der Familientreffpunkt an je­dem Sonntag, darüber hinaus an allen Feiertagen, Familienfesten oder sonstigen Zusammenkünften. Viel­leicht erinnerte sich Hilde Edith deshalb besser an diese Familienresidenz – von der sie eine detaillierte Be­schreibung liefert und die sie als einen „Hafen der Ruhe“ beschreibt - als an die Wohnung ihrer Eltern.

Das eine Zentrum dieser Wohnung war das Wohnzimmer, in dem alle Zusammenkünfte stattfanden. Das an­dere war die Küche. Hier zauberte Johanna - nach Hildes Beschreibung klein und rundlich, immer sehr freundlich, insbesondere sehr gastfreundlich – die köstlichsten Gerichte, die dann im Wohnzimmer mit allem Aufwand eines gutbürgerlichen Haushalts serviert wurden.

Bei Hildes Geburt soll Johanna zunächst tief unglücklich gewesen sein, dass Hilde ein Mädchen war und nicht der erwünschte männliche Enkel. Und das gerade bei ihrem Lieblingsschwiegersohn, Hildes Vater, für den sie ein besonderes Faible hatte. Er war auch der letzte aus der Verwandtschaft, den sie noch erkannte, nachdem sie 1935 einen schweren Schlaganfall erlitten hatte, gefolgt von einer Gürtelrose. Johanna Feige starb schließlich am 15. Juli 1938 im Alter von 83 Jahren. Bestattet wurde sie auf dem jüdischen Friedhof in Bocklemünd, und trotz der bereits sehr schwierigen Umstände konnten ihre Kinder ein Jahr später noch ei­nen Grabstein setzen lassen.

Die Pflege der Mutter hatte wohl Gertrude übernommen, die mit ihr dauerhaft in der Werderstraße zusam­menlebte. Und sie hatte auch zuvor schon das Zepter in der Küche übernommen, als Johanna diese Arbeit zu beschwerlich geworden war.

Gertrude „Trude“ Hecht (* 27. Juni 1877 in Kepno) war das älteste von den sieben Geschwistern Hecht. Über ihre frühen Jahre ist außer Gerüchten nichts bekannt. Nach den Erinnerungen von Hilde soll sie sich vor dem Ersten Weltkrieg als Begleiterin einer „Dame der Gesellschaft“ in St. Petersburg aufgehalten haben. Noch vor dem Ausbruch des Krieges ist sie allerdings mit der gesamten Familie nach Köln gekommen.

Gertrude war nie verheiratet und hatte keine Kinder. Daher konnte und musste sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Nach Aussage der Historischen Adressbücher scheint sie sich zunächst als Damenschneide­rin versucht zu haben. Spätestens ab dem Jahr 1918 engagierte sich Gertrude dann aber im Tabakwarenhan­del ihrer Familie „Hecht & Cie“, im Laufe der Zeit übernahm sie zusammen mit ihren Brüdern Hermann und Jonas die gesamte Geschäftsführung. Der Zentralsitz der Firma mit Lager befand sich am Heumarkt 56, von dort aus wurde die Ware in die Verkaufsstellen gebracht. Die erste „Verkaufsstelle“ lag auf der Brandenbur­ger Straße 26. Später kam noch eine weitere Verkaufsstelle auf der Krebsgasse 26B hinzu, schließlich noch eine dritte auf der Venloer Straße 354A. Dadurch entwickelte sich aus der anfangs kleinen Zigarrenhandlung eine große Tabakwarengroßhandlung. Zu den besten Zeiten beschäftigte die Firma – außer den Inhabern und ihren Familienangehörigen – sechs Angestellte, drei Vertreter und einen Kassierer. In den frühen 1930er Jah­ren scheint die Firma wieder zurückgegangen zu sein, vielleicht schon aufgrund der Weltwirtschaftskrise, später dann aufgrund der antisemitischen Maßnahmen des NS-Regimes. So reduzierte sich die Zahl der Ver­kaufsstellen bis spätestens 1936 auf die älteste in der Brandenburger Straße. 1938 wurde die Hauptniederlas­sung mit Lager vom Heumarkt in die Agrippastraße 14 verlegt.

Mitglieder der Familie Hecht vor dem Familienunternehmen „Hecht & Cie“, um 1930 (Identifizierung der Personen unklar)

Anders als andere jüdische Geschäfte existierte die Firma „Hecht & Cie“ allerdings noch bis zur Reichspo­gromnacht, auch wenn die Umsätze immer weiter zurückgingen. In dieser Nacht aber wurden die Geschäfts­räume verwüstet, die Einrichtung beschädigt, die Ware gestohlen oder vernichtet. Zusammen mit den folgen­den gesetzlichen Maßnahmen zum „Ausschluss von Juden aus dem Wirtschaftsleben“ mussten Gertrude und ihre Brüder die Firma spätestens Anfang 1939 aufgeben.

Nach der Vernichtung ihrer beruflichen Existenz begann für Getrude wie für den Rest der Familie der Kampf ums wirtschaftliche Überleben. So schreibt Gertrudes Bruder Hermann schon in einem Brief vom 28. Okto­ber 1938: „Alle müssen sich quälen, so Kniebel und Levi und auf der Werderstrasse müssen gleichfalls sich einschränken. Tante Trude sucht schon lange eine Stelle im Haushalt und konnte bis jetzt noch nichts finden. Sie muß sehen, mitzuverdienen.” Gertrude, ehemals die Mitinhaberin einer großen Tabakwarenhandlung, sah also nun keinen anderen Weg, ihr Überleben zu sichern, als eine Stelle als Haushaltshilfe zu suchen – und das im Alter von 61 Jahren. Dies zeigt, wie verzweifelt sie schon jetzt gewesen sein muss – und die schlimmste Zeit sollte erst noch kommen. Ob sie mit ihrer Suche Erfolg hatte oder wie sie ansonsten ihr Überleben sicherte, wissen wir nicht.

Doch trotz all ihrer persönlichen Probleme und Sorgen vernachlässigte sie dennoch nicht ihre Familie und half, wann immer sie gebraucht wurde. Sie hatte schon ihre Mutter Johanna über Jahre versorgt und gepflegt. Dasselbe tat sie nun für ihren Onkel, Johannas Bruder Julius Feige in Hildesheim. Hermann beschreibt dies in einem Brief vom Mai 1940:

„Die gute Tante Ida in Hildesheim ist leider gestorben [...]. Nun steht der lie­be Onkel Julius ganz allein da, die Kinder sind alle in weiter Ferne, und der Onkel ist über den harten Ver­lust ganz untröstlich. Tante Trude ist zu ihm und führt ihm den Haushalt“.

Dies tat sie über Monate, bis min­destens Dezember 1940. Wann genau sie wieder nach Köln zurückkehrte, ist unbekannt, es muss aber vor Mitte 1942 gewesen sein.

Am 15. Juni 1942 wurde Gertrude Hecht von Köln aus in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Bereits am 19. September 1942 wurde sie von dort aus in das Vernichtungslager Treblinka gebracht und ermordet.

Gertrude wurde aber nicht allein nach Theresienstadt deportiert. Im selben Zug saßen ihr Bruder Jonas und seine Frau Sofie sowie deren Geschwister Moritz und Ida Cahn – „Johns und Cahns“, wie sie in den Briefen der Familie oft genannt werden.

 

„Johns und Cahns“

Jonas Hecht (* 13. Juni 1882) – „Onkel John“, wie ihn alle nannten – war das zweitälteste Kind von Johanna Feige. Geboren war er wie alle anderen in Kepno in Posen. Wie sein Bruder Hermann und sein Schwager Friedrich Levi hatte er im 1. Weltkrieg gekämpft, war hoch dekoriert worden, aber wie Hermann auch schwer verwundet. Wie Hilde berichtet, hatte er auch Jahre später noch Granatsplitter in der Hand, die er of­fensichtlich nicht mehr voll benutzen konnte. Deshalb hatte er einen Chauffeur, der seinen Wagen fuhr.

Wie seine Geschwister kam auch er nach Köln, der genaue Zeitpunkt ist uns aber unbekannt. Zum ersten Mal sicher bezeugt ist er uns im Jahr 1925. Zu diesem Zeitpunkt betrieb er gemeinsam mit seinen Brüdern einen Lederwaren-Vertrieb, dessen Geschäftsführer er war, der aber wohl nicht lange Bestand hatte. Gleichzeitig war er gemeinsam mit seiner Schwester Gertrude und seinem Bruder Hermann Mitinhaber der Firma “Hecht & Cie”, und hier blieb er dauerhaft tätig.

Verheiratet war er mit „Tante Sofie“, geb. Cahn (* 1881 in Bendorf), und über sie stand er in engem Kontakt zu Sofies Bruder Moritz Cahn (* 1871 in Bendorf). Wann genau dieser Kontakt entstanden war und ob Jonas zuerst Moritz und dann über ihn seine zukünftige Frau Sofie kennengelernt hatte – oder umgekehrt – wissen wir nicht. Spätestens ab 1925 muss diese Verbindung aber bestanden haben, denn jetzt finden wir sie beide als Bewohner des Hauses Sudermanplatz 7 (Jonas in der 1. Etage, Moritz in der 2.). Moritz Cahn war bis mindestens 1918 Bankbetreiber/Bankier, ab 1925 ist er als Kaufmann gemeldet. Nach den Erinnerungen von Hilde war er der Besitzer des Tabakgroßhandels – ob das stimmt, wissen wir nicht, er ist nie als Mitinhaber gemeldet, stand aber wohl in engem Kontakt zur Firma. Auf jeden Fall aber besaß er Vermögen und könnte der Geldgeber gewesen sein, und in der späteren schlimmen Zeit wurde dieses Vermögen für die Familie überlebenswichtig, wie wir aus den Briefen erfahren.

Vor allem Sofie und Moritz hatten einen größeren Anteil an der Korrespondenz mit Heinz in Palästina – und auch hier begegnen uns zwei liebenswerte Menschen mit all ihren individuellen Eigenarten. Moritz – “Onkel Mo” – war ein “kölscher Jung” mit einem großen Faible für den Karneval, der gerne kleine Gedichte mit Heinz tauschte und glaubte, mit einem halben Liter Kölsch ließen sich alle Probleme der Welt lösen. Und für Tante Sofie war Heinz – ihr “Hennemann”, wie sie ihn immer nannte - mangels eigener Kinder wohl eine Art Ersatzsohn. Mein lieber guter süßer Hennemann. Ich kann es gar nicht glauben, daß du nicht da bist, um mich zu verhauen. Was haben wir beide oft + viel doch abends zusammen gelacht, wenn die anderen schlafen waren, denkst du noch an das Ballspielen, wie ich immer so doof war.” Reicht nicht allein dieser Auszug aus einem Brief vom August 1938, um zu zeigen, was für eine liebevolle und entspannte Tante Sofie gewesen sein muss?

Jonas, Sofie und Moritz – und wohl auch Moritz‘ unverheiratete Schwester Ida Cahn (* 1874 in Bendorf) – wohnten über lange Zeit am Sudermanplatz 7. Erst 1938 zogen sie in die Agrippastraße 14, wo sich dann auch der Geschäftssitz der Firma “Hecht & Cie” sowie das Zentrallager befand. In der Reichspogromnacht wurde das Geschäft verwüstet und das Lager geplündert, anschließend wurde es Juden verboten, überhaupt noch ein Geschäft zu betreiben. Da sie die Geschäftsräume nicht mehr brauchten und auch nicht mehr bezah­len konnten, zogen Jonas und die Cahns im Dezember 1939 in eine „schöne, gemütliche und äußerst preiswerte“ neue Wohung im Haus Horst-Wessel-Platz 14 (heute: Rathenauplatz). “Ich halte mich den ganzen Tag dort auf und es geht dort sehr lustig zu” schreibt Hermann Hecht an seinen Sohn Heinz (Brief vom 10. Januar 1940).

Doch spätestens im Mai 1941, wenige Monate später, war es mit der “Gemütlichkeit” vorbei. Die Geheime Staatspolizei erklärte dieses Haus zum “Ghettohaus” und pferchte hier immer mehr jüdische Kölner zusam­men, um sie für die geplanten Deportationen zu sammeln. In den schlimmsten Phasen könnten es weit über 100 Menschen gewesen sein, mit denen “Johns und Cahns” in diesem Haus unter furchtbaren Bedingungen zusammenleben mussten.

Von dort wurden sie alle – Jonas, Sofie, Moritz und Ida – gemeinsam mit Gertrude Hecht am 15. Juni 1942 ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Bereits kurz danach, am 19. September 1942, wurden Moritz und Ida ins Vernichtungslager Treblinka deportiert und dort ermordet. Jonas und Sofie überlebten in Theresienstadt trotz der entsetzlichen Bedingungen noch mehr als 2 Jahre. Am 6. Oktober 1944 wurden jedoch auch sie mit einem der letzten Transporte nach Auschwitz deportiert und dort noch kurz vor der Befreiung des Lagers er­mordet.

 

Hermann, Margarete und Heinz Herbert Hecht

Über diesen Teil des engeren Kölner Familienkreises sind wir bisher mit Abstand am besten informiert. Dies liegt zum einen daran, dass uns Hilde in ihren Erinnerungen mancherlei berichtet. Vor allem aber liegen uns die Briefe vor, die Hermann und Margarete zwischen 1938 und 1941 an ihren Sohn Heinz Herbert in Palästi­na schickten, und sie erlauben uns einen tiefen Blick in ihr Alltagsleben und ihr Wesen in dieser letzten, schlimmsten Zeit der Verfolgung.

Hermann Daniel Hecht kam am 1. Juni 1884 in Kepno zur Welt, als drittältestes Kind von Johanna und Hey­mann Hecht nach seinen Geschwistern Gertrude und Jonas. Nach dem Umzug der Familie nach Köln stieg er ins Geschäftsleben ein: Im Jahr 1910 ist er in den Adressbüchern als Handelsgehilfe am Hohenzollernring 6 gemeldet, 1915 als Buchhalter in der Werderstraße 29. Dann kam der Erste Weltkrieg. Wie sein Bruder Jo­nas, sein zukünftiger Schwager Hermann Levi und viele andere Männer aus der Familie kämpfte auch Her­mann an der Front – in den Briefen erwähnt er manchmal die Schlachten in Flandern. Wie Hilde berichtet, wurde auch Hermann schwer verwundet. Für seine Tapferkeit wurde ihm sogar das Eiserne Kreuz 1. Klasse verliehen. Hermann soll aber die Annahme verweigert haben, und zwar  aus religiösen Gründen.

Denn  Hermann Hecht war tief religiös, und im Unterschied zu seinem Schwager Hermann Levi war er in seiner Ausrichtung zumindest konservativ, wenn nicht sogar orthodox. Dementsprechend gehörte er in Köln der orthodoxen Gemeinde Adass Yeshurun an, die ihren Sitz in der St. Apern Straße hatte.

Nach dem Krieg kehrte er nach Köln zurück, und spätestens im Jahr 1925 finden wir ihn zusammen mit sei­nen Geschwistern Gertrude und Jonas als Mitinhaber der Firma „Hecht & Cie“. Vielleicht war er aufgrund seiner Vorbildung der Buchhalter der Firma, vielleicht leitete er auch persönlich die Verkaufsstelle in der Brandenburger Straße 26, denn für die nächsten Jahre befand sich dort sein Wohnsitz.

Um das Jahr 1920 dürfte er auch geheiratet haben, und zwar Margarete „Grete“ Meinrath, geboren am 19. Juli 1894 in Osnabrück; am 3. Oktober 1922 wurde ihr einziges Kind Heinz Herbert in Köln geboren. Wann, wo und wie sich die beiden kennengelernt hatten, wissen wir nicht. Wie Hilde Edith in ihren Erinnerungen betont, war eine ganz andere Frage viel interessanter: Wie sich diese beiden hatten finden können, die in Er­scheinung, Persönlichkeit und Temperament vollkommen verschieden waren.

Hilde Edith beschreibt Hermann als still, sanft und schüchtern, sie verwendet sogar das Wort „engelhaft“. Und genau so begegnet er uns in den Briefen. Sanft und freundlich zu jedermann, berührend in seiner ge­bremsten Emotionalität seinem Sohn gegenüber, immer bemüht, ihn zu unterstützen und ihn auch auf Di­stanz zu einem guten Menschen zu erziehen.

Ganz anders in der Wirkung Margarete: attraktiv und selbstbewusst, elegant gekleidet, auf hohen Absätzen, großzügig in der Verwendung von Make-up und Parfum, eine eindrucksvolle Erscheinung, die Hilde Edith an die Schauspielerin Elizabeth Taylor erinnerte.

Und auch sie begegnet uns genau so in den Briefen. Ungebremst in ihrer Emotionalität in jede Richtung – so konnte sie einen ganzen Brief an ihren Sohn darauf verwenden, ihm ihren Zorn auf Onkel Josef Kniebel aus­zubreiten, dessen „Namen er nie mehr erwähnen soll“, weil Josef „zu gemein“ zu ihr war – ohne auch nur im Ansatz zu erklären, worum es überhaupt ging, sodass der Brief für Heinz völlig unverständlich bleiben muss­te. Offensichtlich blieb dieser Eklat auch ohne große Folgen, denn nicht viel später traf man sich wieder bei Onkel Josef zum Kaffee. Mal wirkt Margarete anstrengend in ihrer mütterlichen Aufdringlichkeit, dann wie­der berührend in der tiefen Sehnsucht nach ihrem Sohn. Und schließlich erschütternd in der Verzweiflung, in die diese starke Frau durch die Verfolgung getrieben wurde.

Margarete und Hermann Hecht, 1930er Jahre

Wie Hermann und Margarete die Jahre zunehmender Diskriminierung ab 1933 erlebten, wissen wir nicht. Zumindest konnten sie ihr Geschäft und damit ihre Lebensgrundlage noch bewahren, auch wenn die Um­sätze nach und nach zurückgegangen sein dürften. Margarete – so berichtet Hilde – widersetzte sich in ihrer selbstbewussten Art dem zunehmenden Ausschluss von Juden aus der Gesellschaft und besuchte weiterhin Hotels, Restaurants und öffentliche Einrichtungen, solange es ging. Doch irgendwann musste auch sie sich dem öffentlichen Druck beugen und sich der sozialen Ausgrenzung fügen.

Trotz der zunehmenden Entrechtung scheinen beide aber lange Zeit nicht konkret darüber nachgedacht zu haben, ihre Heimat zu verlassen. Ihrem Sohn Heinz wollten sie aber offensichtlich eine bessere und sicherere Zukunft ermöglichen. Er hatte keine höhere Schule besucht, sondern bereitete sich auf eine Berufstätitgkeit vor; auch im Geschäft scheint er bereits mitgearbeitet zu haben. In der ersten Hälfte des Jahres 1938 entschied die Familie dann aber, ihn mit der “Jugend-Alijah” nach Palästina zu schicken. Ende Juli, also mit noch nicht einmal 16 Jahren, kam Heinz Herbert auf dem Schiff “Galila” nach Palästina und lebte und arbeitete für die nächste Zeit bei einer Bauernfamilie in dem kleinen Ort Kfar Jecheskel. Der Briefwechsel mit seinen Eltern ermöglicht an diesem ganz konkreten Beispiel einen tiefen und eindrucksvollen Einblick in die schönen und die schwierigen Seiten der “Jugend-Alijah”.

Die Hechts, insbesondere Hermann, waren zwar in ihrer religiösen Ausrichtung konservativ, vielleicht sogar orthodox. Sie waren aber vollkommen assimiliert und – wie nicht nur der Einsatz im Ersten Weltkrieg zeigt – verstanden sich als Deutsche jüdischer Konfession. Zionistische Motive lassen sich bei ihnen nicht feststel­len und waren vermutlich auch nicht verantwortlich. Vielmehr nutzten sie die Möglichkeit – vielleicht die einzige – um ihren Sohn der Verfolgung in Deutschland zu entziehen. Dies gelang ihnen auch – Heinz fand in Palästina eine neue Heimat, heiratete und gründete eine Familie.

Kurz nach Heinz’ Abreise verschärfte sich die Situation der Familie dramatisch. In der Reichspogromnacht wurde das ohnehin schon angeschlagene Geschäft geplündert, sodass es zum Ende des Jahres aufgegeben werden musste. Fortan kämpften Hermann und Margarete – wie die gesamte Familie – um das wirtschaftliche Überleben. Sie wurden aus ihrer Wohnung vertrieben oder mussten sie aufgeben, um die Miete zu sparen. So zogen sie zuerst wieder in die Werderstraße 29, etwas später dann zu Hermanns Bruder Bruno in die Lütticher Straße 58. Margarete nahm eine Stelle als Haushaltshilfe an, die sie über die Grenze ihrer Kräfte hinaus belastete. Zusätzlich musste die Familie sich immer stärker einschränken und begann, nach und nach immer mehr von ihrem Hausstand zu verkaufen.

Erst jetzt, nach dem Schock der Reichspogromnacht und der Aufgabe des Geschäfts, begannen die Hechts auch nach Ausreisemöglichkeiten zu suchen - in die USA, nach Großbritannien, nach Palästina, sogar in die Dominikanische Republik - immer dringender und immer verzweifelter. Doch alle diese Pläne scheiterten an der wirtschaftlichen Ausplünderung durch das NS-Regime und der restriktiven Einwanderungspolitik des Auslands.

“Wir tun alles, um von hier herauszukommen, auch Cahns, Onkel Josef und die anderen werden aus­wandern, vielleicht alle zusammen, wenn es sich machen läßt. Aber ins Ausland zu kommen, ist für uns Juden ungemein schwer, wenigstens gegenwärtig, da die Länder sich gegen die Einwanderung von armen Juden stemmen und sich absperren. Da die Vermögen der Juden nicht mitgenommen werden können, so sind wir alle arm” (Brief vom 11. Januar 1939).

Von beidem – dem Kampf um das wirtschaftliche und soziale Überleben und der verzweifelten Suche nach einer Fluchtmöglichkeit - vermitteln uns ihre Briefe einen Eindruck von erschütternder Intensität.

Endlich, nach Jahren verzweifelten Bemühens, gelang es Hermann und Margarete, mit Hilfe eines Vetters aus den USA an Visa und Schiffskarten für das Frühjahr 1942 zu kommen. Doch es war zu spät, der Kriegseintritt der USA machte alle Pläne zunichte.

Am 30. Oktober 1941 wurden Hermann und Margarete in das Ghetto Litzmannstadt deportiert. Ein knappes Jahr später, im September 1942, wurden beide nach Chelmno deportiert und dort ermordet.

 

Irma, Hermann und Hilde Edith Levi

Irma (* 04. Januar 1899) war das jüngste Kind von Johanna und Heymann Hecht, mit zehn Jahren Abstand das Nesthäkchen der Familie. Da sie noch in Kepno in Posen geboren wurde, kann die Familie erst später nach Köln gezogen sein, wahrscheinlich nach dem Tod des Vaters, der drei Jahre nach Irmas Geburt starb. In Köln besuchte Irma wohl noch die Schule, wo sie ihren zukünftigen Ehemann kennengelernt haben soll, Friedrich Hermann Levi, der dort als Lehrer unterrichtete.

Hermann (* 19. Oktober 1888) stammte aus Rodheim in Hessen und war der Sohn des dortigen Rabbiners Löb Levi. Er hatte einen anderen Hintergrund als seine zukünftige Frau Irma. Seine Familie war nicht “aus dem Osten” zugewandert, sondern schon seit Generationen “im Westen” ansässig. Zudem war Hermann kein selbstständiger Geschäftsmann, sondern hatte als einziger aus der Familie einen akademischen Hintergrund. Nach der Schule hatte er die Lehramtsausbildung absolviert, sowohl am katholischen Lehrerseminar in Kem­pen (Rheinland) als auch am jüdischen Lehrerseminar in Köln. Seit 1909 war er für die Synagogengemeinde Köln-Ehrenfeld als Religionslehrer tätig, seit 1912 auch mit der Zulassung für höhere Schulen. Wie so viele jüdische Deutsche seiner Generation hatte er im Ersten Weltkrieg gekämpft und vier Jahre lang, von 1915 bis 1918, an den Feldzügen im Westen teilgenommen. 1927 begann er schließlich ein Studium an der Philo­sophischen Fakultät der Universität zu Köln, das er 1933 mit der Promotion zum Dr. phil. abschloss. Promoviert wurde er mit einer Arbeit über das jüdische Erziehungswesen in Deutschland im 19. Jahrhundert. Zwischenzeitlich hatte er seine spätere Ehefrau Irma Hecht kennengelernt. Beide heirateten am 12.12.1922,  zweieinhalb Jahre später kam ihre einzige Tochter namens Hilde Edith zur Welt.

 

Hilde Edith Levi 1939

Beide Eltern kamen aus jüdischen Familien und waren sehr religiös, und auch Hilde wurde dementsprechend erzogen. Irmas Familie war allerdings konservativ-orthodox, Hermann dagegen liberal, wie sich auch an sei­ner Tätigkeit für die (liberale) Ehrenfelder Gemeinde zeigt. Die Unterschiede in religiöser Ausrichtung und beruflicher Orientierung hatten aber keine störenden Auswirkungen. Aus Hildes Schilderungen erschließt sich eine glückliche Ehe und ein harmonisches Familienleben. Die Eltern entschieden alle Dinge in vollkom­mener Übereinstimmung, Hilde wurde oft in die Entscheidungen eingebunden, insbesondere dann, wenn es um sie selbst ging (etwa bei der Frage des Schulwechsels auf die höhere Schule). Levis waren wohl am Fa­milienunternehmen „Hecht & Cie“ nicht beteiligt, ansonsten aber vollkommen in die Familie Hecht inte­griert, Hermann scheint sogar der Liebling von Oma Johanna gewesen zu sein. Wie der Rest der Familie wa­ren Levis auch im Belgischen Viertel ansässig, zunächst in der Antwerpener Straße 24, spätestens seit Hildes Geburt dann in der Lütticher Straße 43.

Hilde konnte im Juli 1939 mit einem Kindertransport der Jawne nach England fliehen. Auch die Eltern such­ten verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit, genau wie der Rest der Familie. Doch auch ihre Pläne scheiter­ten. Beide wurden am 22. Oktober 1941 ins Ghetto Litzmannstadt deportiert. Irma starb dort am 23. April 1943. Hermann war bereits am 28. September 1942 nach Chelmno deportiert und dort ermordet worden.

Im Zug nach Litzmannstadt befanden sich noch zwei weitere Mitglieder der Familie Hecht: Irmas Schwes­tern Lea und Recha.

 

Lea, Recha und die „Kniebels“

Von Lea Hecht – in den Briefen immer „Tante Linka“ genannt – wissen wir kaum etwas. Trotz unserer guten Dokumentation tritt sie in den Briefen der Familie Hecht wie auch in Hildes Erinnerungen nur an wenigen Stellen in Erscheinung.

Lea wurde am 27. Juni 1889 in Kepno geboren, zwei Jahre nach ihrer älteren Schwester Recha und ganze zehn Jahre vor dem „Nesthäkchen“ Irma. Auch sie kam mit der gesamten Familie wohl noch vor dem Ersten Weltkrieg nach Köln. Lea scheint wie ihre älteste Schwester Gertrude unverheiratet und kinderlos geblieben zu sein. In den Historischen Adressbüchern Kölns wird sie nie genannt, es gibt aber in den Erinnerungen von Hilde einen Hinweis auf „Tante Leas Zimmer“ in der Wohnung von Oma Johanna.

Lea scheint also wie Gertrude im Familiensitz in der Werderstraße 29 gelebt zu haben. Auf eine Berufstätig­keit, etwa im Familienbetrieb „Hecht & Cie“, haben wir keinen Hinweis, vielleicht beteiligte sie sich an der Haushaltsführung und später an der Pflege der Mutter. Sie scheint sich aber auch um ihre zwei Jahre ältere Schwester Recha gekümmert zu haben, die zumindest zeitweise ebenfalls eine Bleibe  in der Werderstraße gefunden zu haben scheint. Über sie wissen wir wenig mehr als über Lea, aber dies reicht, um ein aus beson­deren Gründen tragisches Schicksal zu erkennen.

Recha (* 17. Oktober 1887 in Kepno) war mit ihrer Familie ebenfalls nach Köln gezogen. Im Unterschied zu ihren Schwestern Getrude und Lea hatte sie geheiratet, und zwar „Onkel Josef“ Kniebel. Kinder scheinen beide nicht gehabt zu haben, und auch das Eheleben gestaltete sich wohl schwierig. Der Grund dürfte in ei­ner schweren Erkrankung Rechas gelegen haben.

Wie Hildes Mutter Irma ihrer Tochter erzählte, wollte Recha „vor langer Zeit“ die Geschäftseinnahmen zur Bank bringen. Auf dem Weg wurde sie Opfer eines Überfalls, ein Radfahrer entriss ihr die Tasche mit dem Geld. Dadurch erlitt Recha einen schweren Nervenzusammenbruch und war lange Zeit in einer Klinik „in Saine“. Wo sich diese Klinik befand, wann der Überfall stattfand und wie lange Recha fort war, bleibt un­klar. Sie scheint aber für sehr lange Zeit nicht in der Familie präsent gewesen zu sein. So war Hilde bis zu ihrem elften Geburtstag ihrer Tante Recha nie begegnet und wusste nicht einmal von ihrer Existenz, erst im Frühjahr 1936 entdeckte sie das „Familiengeheimnis“. Ihre Mutter Irma und Tante Lea scheinen die Korre­spondenz mit Recha bzw. der Klinik geführt zu haben, und nach ihrer Rückkehr wenige Wochen später lebte Recha dann bei ihrer Mutter in der Werderstraße.

Lea und Recha Hecht wurden beide am 22. Oktober 1941 in das Ghetto Litzmannstadt deportiert, im selben Zug wie Hilde Ediths Eltern Irma und Hermann. Lea wurde am 5. Mai 1942 nach Chelmno deportiert und dort ermordet. Recha war bereits in Litzmannstadt gestorben - am 10. Januar 1942 „nach kurzer Krankheit“, wie es heißt. Was es damit auf sich hat, wissen wir nicht. Aber was Deportation und Ghettohaft für eine ner­venkranke Frau bedeutet haben müssen, möchte man sich gar nicht vorstellen.

Josef Kniebel (* 15. März 1886) stammte aus Buk, wie Kepno ebenfalls in der preußischen Provinz Posen gelegen. Und auch er war wie Familie Hecht nach Köln gezogen. Wann dies geschehen war, wann er Recha Hecht kennen gelernt und geheiratet hatte, ist unbekannt. Vielleicht kannten sie sich bereits aus Posen. Viel­leicht waren sie aber auch erst in Köln in Kontakt gekommen, möglicherweise über Geschäftskontakte. Denn auch Josef Kniebel betrieb eine Zigarrenhandlung, in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren befand sie sich in der Altenberger Straße 27 in der Innenstadt.

Josef lebte zusammen mit seiner unverheirateten Schwester Rosa (* 20. Dezember 1889 in Buk). Vielleicht war dies eine Folge von Rechas langjähriger schwerer Erkrankung – noch 1936 waren Recha und Josef nach Aussage von Hilde Ediths Mutter verheiratet, aber aufgrund der Umstände konnten oder wollten beide viel­leicht nicht mehr zusammen leben.

Josef und Rosa – „Kniebels“, wie sie in den Briefen immer kollektiv genannt werden – waren zwar nur ange­heiratet. Trotzdem waren sie nach Aussage der Briefe fest in die Familie Hecht integriert, vor allem zu Her­mann und Margarete Hecht bestand wohl engerer Kontakt. So besuchte man sich häufiger, Kniebels ließen Heinz regelmäßig brieflich grüßen oder schrieben ihm auch selbst, und Rosa Kniebel hatte den Kanarienvo­gel von Heinz zu sich genommen, den sie hingebungsvoll pflegte.

Das Verhältnis zu Irma und Hermann Levi war weniger eng, Hilde bestätigt, dass man sich nur bei seltenen Gelegenheiten traf. Doch mochte sie beide sehr gern, bezeichnete sie als einen „frischen Wind“ in der Fami­lie und liefert uns eine detaillierte Beschreibung. Josef war groß, breitschultrig und stämmig, insgesamt eine sehr eindrucksvolle Erscheinung. Er hatte blaue Augen und rötliche Haare, die immer akkurat geschnitten und frisiert waren. Er litt an einer Hörschwäche und rauchte dicke Zigarren, die einen angenehmen Geruch verströmten. Vor allem seine gut geschnittenen Anzüge und seine blank polierten Schuhe beeindruckten Hil­de sehr.

Rosa war schmal und adrett, mit kurzen grauen Locken. Ihre dunklen Augen und dunklen Brauen standen in Kontrast zu ihrem blassen Gesicht. Sie war sehr praktisch veranlagt und schlagfertig. An ihr beeindruckten Hilde vor allem ihre natürliche Wärme, ihr Humor und ihre positive Einstellung.

Josef und Rosa Kniebel wurden am 30. Oktober 1941 nach Litzmannstadt deportiert, gemeinsam mit Her­mann und Margarete Hecht. So tragisch es klingt – vielleicht trafen sie auch Josefs Schwägerin Lea noch einmal wieder, denn wie sie wurden auch Josef und Rosa im Mai 1942 nach Chelmno deportiert und dort er­mordet.

Bruno Hecht mit seinen Kindern, ca. 1936

Onkel Bruno und die Kinder

Als Hilde im Juli 1939 mit einem Kindertransport Köln verließ, war sie erleichtert, dass ihre Eltern ihr einen tränenreichen Abschied am Bahnhof ersparten. Sie freute sich aber ebenso, dass doch jemand aus der Ver­wandtschaft gekommen war, um sie auf dem Bahnsteig zu verabschieden: ihr “unkonventioneller” Onkel mit seiner jüngsten Tochter, Hildes Lieblingscousine. Dieser Onkel war Bruno Hecht, und sein Leben verlief tat­sächlich in vielfacher Hinsicht ganz anders als das seiner Geschwister.

Geboren wurde Bruno am 7. August 1886 in Kepno, und mit dem Rest seiner Familie verließ auch er seine Heimat. Anders als seine Geschwister ließ er sich aber nicht in Köln nieder, sondern suchte sein Glück in der “Neuen Welt” – vielleicht folgte er dabei dem Vorbild eines anderen Zweiges der Familie Hecht, von dem noch die Rede sein wird. Im Februar 1911 traf er an Bord der “Pennsylvania” in New York ein und reiste von dort weiter nach El Salvador. Dort heiratete er in den nächsten Jahren Rosa Evangelina Sandoval (* 1896 in Metapan). Das Ehepaar ließ sich in San Salvador nieder und bekam in schneller Folge vier Kinder: Irma (* 1917), Bruno “Brunetto” (* 1918), Johanna “Juanita” (* 1920) und Ruth (* 1922). Bruno und seine Kinder erhielten neben der deutschen auch die salvadorianische Staatsbürgerschaft, und ganz sicher wurden die Kinder auch christlich getauft – anders lässt sich ihr weiteres Schicksal nicht erklären. Ob auch Bruno konvertierte, ist nicht bekannt.

1929 kehrte Bruno mit seinen Kindern völlig überraschend wieder nach Deutschland zurück – nach Hildes Erinnerungen ein großer Schock für Oma Johanna und die Tanten. Ob ein Scheitern der Ehe verantwortlich war, geschäftliche Gründe oder die politische Lage in El Salvador, wissen wir nicht. Evangelina Sandoval blieb jedenfalls in El Salvador, die Ehe wurde geschieden, Evangelina scheint danach erneut geheiratet zu haben.

Bruno war bereits in El Salvador als “Kaufmann” tätig gewesen, dies setzte er in Köln fort – zunächst als “General-Vertreter” mit Geschäftsniederlassung auf der Moltkestraße 10, etwas später mit einem “Neuheiten-Vertrieb”. Gewohnt hat die Familie offenbar zunächst ebenfalls im “Familiensitz” in der Wer­derstraße 29 – mit fünf zusätzlichen Personen, darunter vier kleine oder halbwüchsige Kinder sicher keine leichte Sache. Offensichtlich war Bruno aber geschäftlich erfolgreich, denn spätestens 1933 kaufte er das Haus Lütticher Straße 58 und bezog dort selbst mit seinen Kindern eine große Wohnung.

Bruno und seine Kinder waren auch Staatsbürger von El Salvador, die Kinder zudem – in der Diktion der Nazis – “Mischlinge 1. Grades”. Als die Verfolgung begann und sich immer weiter verschärfte, bot dies der Familie weitgehenden Schutz. Bruno behielt sein Geschäft bis mindestens 1939, ebenso das Haus. Als der Rest der Familie in immer größere wirtschaftliche Schwierigkeiten geriet, wurde Brunos Wohnung immer stärker zum Treffpunkt für die Familie. Hermann und Margarete zogen sogar schon im August 1938 zu Bruno. Doch auch an Bruno und seinen Kindern gingen die politschen Veränderungen nicht spurlos vorüber. So berichtet Hermann in seinen Briefen an seinen Sohn in Palästina, dass seine Cousine Ruth, das jüngste von Brunos Kindern, sehr schön schneidern könne und für verschiedene Familien arbeite – offensichtlich um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Und im Juli 1939 übertrug Bruno das Haus Lütticher Straße 58 als Schenkung an seine älteste Tochter Irma. Wahrscheinlich war dies eine Reaktion auf die Maßnahmen zur “Ausschaltung von Juden aus dem Wirtschaftsleben”. Juden mussten nun unter anderem ihren Immobili­enbesitz verkaufen und dies könnte auch für Bruno gegolten haben, unabhängig von seiner doppelten Staats­bürgerschaft. Irma als christlich getaufte “Halbjüdin” war davon aber nicht betroffen. Ihr Bruder Bruno (“Brunetto”) unterlag wiederum anderen Einschränkungen. Als deutscher Staatsbürger und “Mischling 1. Grades” wurde er am 1. April 1939 zum “Reichsarbeitsdienst” eingezogen, anschließend musste er auch seinen Wehrdienst ableisten.

Ab Oktober 1941 wurden alle Mitglieder der Familie Hecht sukzessive deportiert, nur Bruno und seine Kinder blieben verschont und wohnten weiterhin in Köln. Bruno hielt Kontakt zu den Verwandten und unter­stützte sie mit Geldsendungen und Päckchen, solange dies möglich war. So erfuhr er auch schon früh von den ersten Todesfällen.

Schwierig wurde die Lage auch für ihn mit der Kriegserklärung El Salvadors an Deutschland im Dezember 1941. Doch auch jetzt bot ihm seine doppelte Staatsbürgerschaft noch Möglichkeiten. So berichtet er in einem Brief an Heinz aus dem Jahr 1943, dass er und seine drei Töchter inzwischen mit Hilfe des Spanischen Roten Kreuzes “auf dem Austauschwege” nach Madrid gekommen waren und im Kontakt mit Verwandten in San Francisco ihre Ausreise in die USA zu regeln suchten. Wie sie die Jahre dazwischen überstanden und die sicherlich schwierige Reise nach Madrid bewerkstelligen konnten, wissen wir allerdings nicht.

Für “Brunetto” dagegen gestaltete sich die Sache schwieriger, da er einerseits Staatsbürger eines Staates war, der sich mit Deutschland im Krieg befand. So war er zunächst im Februar 1942 im Kölner Gefängnis “Klin­gelpütz” inhaftiert, dann nach Laufen bei Salzburg gebracht und schließlich “als Salvadoreaner als In­ternierter No. 252 im amerikanischen Interniertenlager in Tittmoning- Ilag VII-Z. (Oberbayern) interniert” worden. Andererseits hatte “Brunetto” aber seine Wehrpflicht bei der Wehrmacht abgeleistet, deshalb konnte er zunächst nicht rechtzeitig aus dem Lager entlassen werden, um gemeinsam mit seiner Familie nach Spanien zu reisen. Erst Mitte 1944 wurde er mit Hilfe des Spanischen Roten Kreuzes entlassen und konnte Anfang Juni von Barcelona aus in die USA ausreisen. Sein Vater und seine Schwestern befanden sich zu dieser Zeit immer noch in Madrid, erst etwas später traf sich die Familienmitglieder in den USA wieder und kehrten anschließend in die alte “Heimat” nach El Salvador zurück. Dort blieben sie dauerhaft ansässig und gründeten eigene Familien.

Bruno („Brunetto“) Hecht mit seinen Kindern in El Salvador, ca. 1970

Nach dem Krieg stand Onkel Bruno in Kontakt mit Hilde in Großbritannien, er scheint sie sogar dort besucht und ihr Bücher und Dokumente gebracht zu haben, die sich noch in seinem Besitz befanden. Ende der 1950er Jahre stellten er, Hilde und Heinz – die einzigen Überlebenden und Erben der Familie Hecht – ge­meinsam einen Antrag auf Rückerstattung. Ob sie auch danach noch den Kontakt aufrecht erhielten, ist un­bekannt.

Das Schicksal des “Kölner Kerns”

Bruno Hecht hatte versucht, den Kontakt zu seinen Geschwistern nach Beginn der Deportationen aufrecht zu erhalten und sowohl Hilde in England als auch Heinz in Palästina über das Schicksal ihrer Angehörigen auf dem Laufenden zu halten. Bereits während des Krieges erhielt er die ersten schlimmen Nachrichten:

“Lieber Heinz! […] Deine Eltern kamen mit Tante Linka, Recha, Levis und Kniebel Oktober 1941 nach Litz­mannstadt, Talweg 9 Zimmer 5, Onkel John mit Tante Trude und Familie Cahn im Juni 1942 nach There­sienstadt im Protektorat Böhmen, Adresse: Ow. 318. Tante Recha, Onkel Julius sowie Tante Ida leben nicht mehr, letztere ist im Sommer 1941 schwer erkrankt und nach kurzer Krankheit verschieden. Onkel Julius am 18. März 1942 ist leider unter sehr traurigen Umständen noch kurz vor seiner Evakuierung nach Theresien­stadt unter nichtigen Vorwänden, seine eigenen Möbel verkauft zu haben, verhaftet worden und dort gestor­ben. […] Tante Recha ist am 10. Januar nach kurzer Kankheit in Litzmannstadt verschieden […].”

(Brief von Bruno Hecht aus Madrid, Mitte 1943)

Erst nach Kriegsende zeigte sich das ganze schreckliche Ausmaß der Vernichtung. Von den 20 Personen aus dem engeren Familienkreis wurden 13 ermordet. Nur ein Drittel überlebte, und das auch nur unter beson­deren Umständen: Onkel Bruno und seine Kinder, da sie als salvadorianische Staatsbürger besonderen Schutz genossen und besondere Möglichkeiten zur Flucht hatten – Hilde Edith Levi, die mit einem Kinder­transport entkommen konnte – und Heinz Herbert Hecht, dem mit der “Jugend-Alijah” die Ausreise gelang. Die wenigen Überlebenden waren nach dem Krieg zudem über die ganze Welt zerstreut – Großbritannien, USA, El Salvador und Palästina.

Die weitere Verwandtschaft

Um die Kölner Kernfamilie herum gruppierten sich viele weitere Familienzweige, die mal mehr, mal weni­ger eng mit den Kölner Hechts verwandt waren. Dementsprechend wird die Verbindung unterschiedlich in­tensiv gewesen sein. Allerdings erfahren wir in vielen Fällen von direkten Kontakten und gegenseitigen Be­suchen, und alle diese Familienzweige spielen eine Rolle im Briefverkehr von Hermann und Margarete Hecht mit ihrem Sohn Heinz Herbert in Palästina. Insgesamt werden in dieser Quelle fast 60 weitere Ver­wandte explizit genannt, erschließen lassen sich noch weit mehr (insgesamt 90 Personen, und bei weiterer Recherche würde diese Zahl sicherlich noch wachsen).

 

Familie Hecht in den USA

Dieser Familienzweig war mit der Kölner Familie Hecht direkt verwandt und stammte von Wolff Hecht ab, dem Bruder von Heymann Hecht und Schwager von Johanna Feige, der Kölner “Stammmutter”. Wolff Hecht (* 1831 oder 1841) und seine Frau Handel Goldbaum hatten mindestens acht Kinder, alle Cousins und Cousinen der Kölner Familienmitglieder: Daniel (* 1864), Cäcilie (* 1867), Elka (* 1870), Hermann (* 1870), Henrietta (* 1871), Julius (* 1873), Ida (* 1879) und Ella (* 1887). Geboren waren sie alle ebenfalls in Kepno in Posen, einige von ihnen (Daniel, Cäcilie, Hermann, vielleicht auch Elka) waren aber bereits früh in die USA oder nach Südamerika ausgewandert. Wie eng ihr Kontakt zu den Kölner Verwandten noch war, ist unbekannt. Einige der  Geschwister scheinen sich aber zumindest zeitweise in Köln aufgehalten zu haben.

Ida Karfiol, geb. Hecht (2. v.l.), Ella Jacobsohn, geb. Hecht (2. v.r.), Julius Hecht (r.), Köln 1930er Jahre

Wichtig für die Kölner wurde vor allem Hermann Hecht, der bereits seit der Jahrhundertwende in San Fran­cisco lebte. Auf ihn richteten sich ab 1933 die Hoffnungen aller, die fliehen wollten. Ihm gelang es offenbar, allen seinen Geschwister die Einreise zu ermöglichen, die sich noch nicht in Amerika befanden. Aus diesem Grund haben alle Familienmitglieder den Holocaust überlebt – ganz anders als die Kölner.

Hermann bemühte sich intensiv, auch seinen Cousins und Cousinen aus Köln die Flucht zu ermöglichen. Durch seine Hilfe gelang es tatsächlich, Visa und Schiffskarten für Hermann und Margarete, Sofie und Jo­nas, vielleicht auch für Hermann und Irma Levi zu beschaffen. Doch als endlich alle Formalitäten erfüllt waren, war es zu spät. Der Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 machte alle Hoffnungen zunichte.

 

“Die Tanten aus Frankfurt”

Hermann Levi, Hildes Vater, hatte vier Schwestern, alle wie er geboren in Rodheim: Jettchen (* 1881), Flora, verh. Wolfkehl (* 1883), Berta, verh. Adler (* 1885) und Lina, verh. Simon (* 1893). Aufgrund der Entferung war der direkte Kontakt nicht besonders intensiv, Hilde hat sie aber mindestens zweimal besucht, 1932 und 1938, und kannte sie alle persönlich.

Jettchen, die Älteste, hatte nie geheiratet. Sie war bei den Eltern in Rodheim geblieben und lebte nach deren Tod allein im Elternhaus. Ihr Bruder Hermann besuchte sie regelmäßig, wenn er in Frankfurt war. Dort lebten die drei anderen Schwestern. Flora hatte geheiratet und zwei Töchter, Ilse (* 1921) und Johanna (* 1922) – Hildes Cousinen. Berta hatte ebenfalls zwei Kinder, Fritz (* 1915) und Arno (* 1917) – Hildes Cousins. Bertas Ehemann war im Ersten Weltkrieg gefallen, aber auch Flora war früh Witwe geworden und mit zwei kleinen Kindern zurückgeblieben. Entsprechend schwierig war ihre finanzielle Situation. Berta hatte zudem noch Sorge um ihren Sohn Arno, der nach Hildes Aussage Lernschwierigkeiten hatte, vielleicht aufgrund der kriegsbedingten Mangelernährung zum Zeitpunkt seiner Geburt. Hermann unterstützte beide Schwestern mit einer kleinen monatlichen Zuwendung aus seinem knappen Gehalt. Lina war lange unver­heiratet geblieben. Sie hatte bei ihrer Tante in Frankfurt gelebt und diese gepflegt. Nach deren Tod erbte sie die Wohnung und blieb dort wohnen. Sie schockierte den Rest der Familie durch ihre – relativ späte und vollkommen unerwartete – Heirat mit einem älteren verwitweten Mann, der eine bereits erwachsene Tochter und mindestens zwei Enkelkinder hatte. Hilde lernte sie bei ihrem letzten Besuch 1938 kennen und merkte, dass alle drei die neue Frau ihres Vaters vollkommen akzeptiert hatten.

Auch von diesem Familienzweig überlebte fast niemand. Jettchen wurde deportiert und nach Kriegsende für tot erklärt. Flora wurde in Sobibor ermordet. Ihre beiden Töchter Ilse und “Hanny” hatten wohl vor, im Früh­jahr 1940 nach Palästina zu gehen – so schreibt es Hilde in einem Brief aus England vom Dezember 1939. Doch diese Hoffnung zerschlug sich, beide wurden 1943 in Auschwitz ermordet. Berta wurde wohl zusam­men mit ihrem Sohn Arno nach Polen deportiert, beide kamen dort ums Leben. Lina schließlich wurde 1942 zunächst nach Theresienstadt deportiert, 1944 dann nach Auschwitz, gemeinsam mit ihrem Ehemann. Ver­mutlich wurden sogar dessen Tochter aus erster Ehe und ihre drei Kinder ebenfalls in Auschwitz ermordet.

Nur ein Mitglied dieser Familie hat überlebt: Bertas älterer Sohn Fritz Adler, der 1939 nach England fliehen konnte und zu dem Hilde dort in Briefkontakt stand.

 

Familie Feige (aus Hildesheim)

Auch die Familie(n) Feige war(en) mit den Hechts in Köln direkt verwandt, und zwar über die Seite der „Stammmutter“ Johanna Hecht, geborene Feige: Sie hatte zwei jüngere Brüder, Michael (* 1859) und Julius Feige (* 1866).

Michael Feige und seine Frau Hanna Schaul wiederum hatten mindestens vier Kinder, die Söhne Fritz und Max (* 1890) sowie die Töchter Amalie (* 1891) und Julia (* 1888), die alle in Kepno in Posen geboren wa­ren. Fritz und Max Feige sowie die Kinder „Muschi“ und Ulli konnten rechtzeitig nach Palästina auswan­dern. Über Amalies Schicksal ist nichts bekannt. Julia Feige, verh. Jakobstamm (* 1888 in Kepno) aus Ber­lin, in den Briefen „Tante Julla“ genannt, wurde dagegen mit ihrem Sohn Hans (* 1924) ins Ghetto War­schau deportiert und ermordet, mindestens ein weiterer Sohn entkam ebenfalls nach Palästina.

Engere Verbindungen scheint die Kölner Familie zu dem Familienzweig von Julius Feige in Hildesheim ge­habt zu haben. In den Briefen ist von mehreren Treffen und Besuchen die Rede.

Julius Feige (* 1866) und seine Frau Ida Hamm (* 1876) hatten mindestens drei Kinder, die Söhne Hans und Herbert sowie die Tochter Else. Julius, Sohn Hans und Schwiegersohn Leopold Cohn, der Mann von Else, gehörten vermutlich zu den Männern, die 1938 nach der Reichspogromnacht für eine bestimmte Zeit ins KZ verschleppt wurden, um sie zur Ausreise zu zwingen. Kurz darauf flohen Sohn Hans und Tochter Else mit Mann und Kindern nach England, der zweite Sohn Herbert nach Palästina.

Als 1940 „Tante Ida“, die Frau von Julius, plötzlich an einer Krankheit starb, stand „der arme Onkel Julius völlig allein da“. Deshalb führte Tante Gertrude ihm mehrere Monate lang den Haushalt.

Julius Feige ist schließlich „am 18. März 1942 leider unter sehr traurigen Umständen noch kurz vor seiner Evakuierung nach Theresienstadt unter nichtigen Vorwänden, seine eigenen Möbel verkauft zu haben, ver­haftet worden und dort gestorben”. So berichtet Bruno Hecht in einem Brief aus dem Jahr 1943 seinem Nef­fen Heinz in Palästina. Genauer gesagt war Julius Feige von der Gestapo in Haft genommen worden und hatte aus Verzweiflung Selbstmord begangen.

(Vermutlich) „Onkel Erich“ mit seiner Frau Elfriede Meinrath (geb. Norden)

Familie Meinrath – “Die Lehrter”

Dieser Familienzweig war angeheiratet, und zwar über Margarete Hecht, geborene Meinrath, die Mutter von Heinz. Hilde Edith Levi und ihre Eltern dürften daher zu ihnen keinen engeren Kontakt gehabt haben.

Margaretes Vater Oskar Meinrath (* 1860) war verheiratet mit Paula Eisenstein (* 1869). Paula starb bereits 1926, Oskar 1940 eines natürlichen Todes. Außer Margarete hatten sie noch zwei weitere Kinder: Else Brumsack (* 1891) und Erich Meinrath (* 1896). Erich war mit Frau und Sohn ebenfalls nach Palästina aus­gewandert und spielt in den Briefen der Familie Hecht eine große Rolle als möglicher Kontakt für Heinz. Tragischerweise wurde „Onkel Erich“ selbst in Palästina vom Krieg eingeholt, er starb im September 1940 bei einem italienischen Luftangriff in Tel Aviv.

„Tante Else“, früh verwitwet, wurde mit ihren beiden Kindern nach Riga deportiert. Sie selbst wurde im Ghetto Riga-Kaiserwald ermordet. Ihr Sohn Günther (* 1923) überlebte das Ghetto, starb aber unmittelbar nach der Befreiung an Typhus. Tochter Ruth (* 1921) überlebte und konnte anschließend in die USA aus­wandern.

Familie Kniebel in Lünen

 

Siegmund Kniebel (* 1880) war der Bruder von “Onkel Josef” und “Fräulein Rosa” Kniebel und stammte wie sie aus Buk in Posen. Hier handelt es sich ebenfalls um angeheiratete Verwandtschaft, zu der die Familie Hecht vermutlich keinen direkten Kontakt hatte; in den Briefen spielen sie aber durchaus eine Rolle, vor al­lem weil Siegmunds Sohn Leo sich schon im Herbst 1938 in Palästina befand und engeren Kontakt zu Heinz hatte.

Siegmund Kniebel betrieb in Lünen ein kleines Textil- und Kurzwarengeschäft. In der Reichspogromnacht verwüsteten SA-Männern das Geschäft. Siegmund Kniebel wurde in seiner darüber liegenden Wohnung vor den Augen seiner Frau und seiner Tochter vom Ortsgruppenleiter erschossen. Heinz Herbert Hecht erhielt daraufhin von seinem Vater den Auftrag, seinen Freund Leo Kniebel schonend über den “plötzlichen Tod” seines Vaters zu informieren.

Siegmund Kniebels Frau Rosa und die gemeinsame Tochter Helene (* 1921) konnten Anfang 1939 zu Leo nach Palästina entkommen.

 

Familie Feilchenfeld aus Breslau

In welchem Verhältnis Feilchenfelds zur Kölner Familie Hecht standen, ist unklar. In den Briefen werden sie aber als „Mischpochoh“ (Familie) bezeichnet. Und als Onkel Bruno, der einzige Überlebende der Kölner Hecht-Geschwister, nach 1945 nach überlebenden Verwandten suchte, gehörten Feilchenfelds auch dazu.

Heimann Feilchenfeld (* 1900) stammte aus Odolanow in Posen, aus derselben Stadt wie Michael Feige; wahrscheinlich rührte daher die familiäre Verbindung. Später lebte er mit seiner Frau Grete Friedländer (* 1901) und den drei Kindern Eli (* 1932), Josef (* 1935) und Esther (* 1937) in Breslau. Auch er scheint zu den Männern gehört zu haben, die man im Zuge der Reichspogromnacht in ein KZ verschleppte. Die gesamte Familie Feilchenfeld wurde in Riga ermordet.

 

Familie Honi – „Die Hadamarer“

Auch bei Familie Honi ist nicht klar, in welcher Weise sie mit Familie Hecht in Köln verwandt war. Doch auch sie – speziell Hermann Honi (* 1881) – wird in den Briefen als „Mischpochoh“ (Familie) bezeichnet, Hermanns Tochter Selma Honi (* 1907) als „Tante Selma“. Hermanns Bruder Julius Honi (* 1886) und sei­ne Frau Renate (* 1891) erscheinen zwar nur als „Herr und Frau Honi“ – doch waren sie im Oktober 1938 bei Hermann und Margarete Hecht zu Gast und ließen Heinz Plätzchen nach Palästina schicken. Und Tante Sofie berichtet Heinz im August 1938 über Brunhilde (* 1925), die 13jährige Tochter von Julius und Renate Honi:

Nachdem du einige Tage weg warst, war die Brunhilde einige Tage hier, das war Hennemann-Er­satz, ein sehr liebes Mädchen, dieselbe ist dann nach Hadamar abgedampft“.

Hermann und Julius Honi wurden im Zuge der Reichspogromnacht ins KZ Buchenwald verschleppt. Nach ihrer Freilassung entkam Hermann mit seiner Frau Ida Rosenthal nach England, wo sich seine Tochter Selma bereits befand. Julius Honi und seine Frau Renate wurden dagegen 1942 nach Izbica oder Sobibor deportiert und ermordet. Brunhilde floh 1939 in die Niederlande, konnte aber dennoch nicht entkommen. 1943 wurde sie von Westerbork ebenfalls nach Sobibor deportiert und ermordet.

Während der gesamten dreitägigen Zugfahrt schrieb Brunhilde einen Brief an ihre Bekannten in Westerbork. Kurz vor der Ankunft in Sobibor gelang es ihr, ihn einem Zugbegleiter zuzustecken, der ihn unter strengster Geheimhaltung den Empfängern aushändigte. Sie überlebten, und so ist auch dieser Brief erhalten. Das Erschütternde an ihm ist vor allem der Kontrast zwischen Brunhildes sachlicher Reisebeschreibung, ihren guten Ratschlägen an die Bekannten – und unserem Wissen um das Schicksal, das sie tatsächlich erwartete.

 

Familie Lenneberg

“Lennebergs hatten eine Einreiseerlaubnis nach Cuba, der alte Lenneberg und der eine Sohn ist mit der Frau bereits in Cuba, aber Gisela mit ihrem Mann und dem Söhnchen sollten nachkommen und traten auch die Reise nach Cuba an, aber sie, wie das ganze Schiff bekam von den Behörden keine Erlaubnis zum Landen. So mußte das Schiff wieder nach Europa zurück und die Passagiere wurden auf einige Länder ver­teilt, die Lennebergs kamen nach Rotterdam in ein Camp, wo sie es nicht so gut haben.”

(Brief vom 18. August 1939)

 

Gisela Lenneberg aus Olpe (* 1897) erscheint in den Briefen als “Tante Gisela” – in welchem ver­wandtschaftlichen Verhältnis sie zur Familie Hecht stand, ist unklar. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Julius Lenneberg (* 1888) und Sohn Hans (* 1924) nahm sie an der dramatischen “Irrfahrt der St. Louis” teil. Dieser Dampfer sollte im Mai 1939 von Hamburg aus 937 jüdische Flüchtlinge nach Kuba bringen. Alle ver­fügten über gültige Einreisevisa.

Im Hafen von Havanna verweigerten die kubanischen Behörden allerdings die Einreise. Es folgte eine Odyssee entlang der amerikanischen Küste, doch kein Land war bereit, die Flüchtlinge aufzunehmen. Daher musste die St. Louis im Juni wieder nach Europa zurückkehren. Den Bemühungen des Kapitäns Gustav Schröder war es zu verdanken, dass die Passagiere in Antwerpen von Bord gehen durften und auf Großbritannien, Frankreich, Belgien und die Niederlande verteilt wurden. Im Zuge des Krieges gerieten 254 der ehemaligen Passagiere wieder unter deutsche Herrschaft und wurden im Holocaust ermordet. Familie Lenneberg dagegen gelang es, in die USA zu fliehen.

Das Schicksal der weiteren Familie

Insgesamt werden in den Erinnerungen von Hilde Edith Levi und den Briefen an Heinz Herbert Hecht in Palästina 56 Personen aus der weiteren Verwandtschaft genannt. Von ihnen wurden mindestens 21 im Holo­caust ermordet. Das Schicksal der einzelnen Familienzweige war dabei ganz unterschiedlich. Abhängig war dies vor allem davon, ob sie bereits in einem sicheren Land lebten, ob sie rettende Kontakte hatten oder rechtzeitig die richtige Entscheidung zur Flucht trafen – oder auch einfach Glück hatten.

Manche Familienzweige überlebten (fast) vollständig, so etwa die Hechts in den USA, Teile der Familie(n) Feige oder Kniebel. Andere Familienzweige wurden nahezu vollständig ermordet, z.B. die Levis aus Rod­heim/Frankfurt oder Familie Feilchenfeld. Die Überlebenden waren ins Ausland geflohen, vor allem nach Palästina, in die USA oder nach England. Auch dabei wurden Familienstrukturen zerrissen, da Mitglieder derselben Familie in verschiedene Länder geflohen waren. Niemand aus der gesamten Großfamilie scheint in Deutschland geblieben oder nach Deutschland zurückgekehrt zu sein.

Freunde und Bekannte in Köln

Auch vor dem sozialen Umfeld der Familie Hecht machte die Vernichtung nicht halt. In den Briefen an Heinz Herbert Hecht in Palästina werden zahlreiche Personen genannt, bei denen es sich um Freunde und Bekannte aus Köln handelt. Da die Briefe erst im Jahr 1938 einsetzen – als die soziale Ausgrenzung der jüdi­schen Deutschen bereits weitgehend abgeschlossen war – handelt es sich bei ihnen, soweit feststellbar, eben­falls ausnahmslos um Juden.

Herr Bernstein, ein Kunde, der Heinz „herzlich grüßen“ lässt - Max Pflanzer und Walther Vohssen, Bekann­te von Heinz, die sich „eingehend nach seinem Befinden erkundigen“ - Charlotte Bruckmann, Hilde Ediths Bekannte aus dem jüdischen Jugendbund - „Tante“ Else Heinemann aus der Nachbarschaft, die für die Hechts die Näharbeiten besorgt hat - Rabbiner Dr. Caro und sein Vertreter Lehrer Freimark - Lehrer Jacobi von der Schule Lützowstraße, der „kein so vorzüglicher Dirigent“ ist -  Kantor Schallamach, der „so schön gesungen hat“ - Dr. Stein, „der jetzt Rabbiner von der Adass ist“, Heinz‘ früherer Lehrer (mit seiner Frau Hannah Cahen, einer ehemaligen Schülerin der KLS) – und sogar der Brötchenjungen Hermann Leibler, der auch auf einem Brief unterschreibt, weil er gerade im Laden ist – sie alle wurden ebenfalls ermordet, und si­cher noch viele mehr.

Der Rest floh in aller Herren Länder, wo auch immer sich eine Möglichkeit bot: in die Niederlande, nach Belgien und Frankreich – und mit Glück vor der deutschen Eroberung von dort aus weiter – in die Schweiz, nach Palästina, England oder in die USA, aber auch nach Indien oder Südamerika.

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