Irmgard Anna Weiler
von Konrad Bach
Der an der Königin-Luise-Schule angebotene Projektkurs Geschichte hat ein primäres Ziel: Die Erinnerung an jüdische Schülerinnen, die das Gymnasium vor oder während der NS-Zeit besuchten, zu erhalten. Alle diese Mädchen haben in unterschiedlichstem Ausmaße die Auswirkungen der Judenverfolgung auf sich selbst, ihre Familie, Freunde oder anderweitige Bekannte erlebt. Die verschiedensten Schicksale, welche von Flucht und frühzeitiger Auswanderung bis hin zu Deportation und Ermordung reichten oder auch bis heute ungewiss sind, sind es wert erforscht, rekonstruiert und weitergegeben zu werden. Die Gefahr, das zu vergessen, was die Nationalsozialisten von 1933 bis 1945 erst nur in Deutschland und dann auch in Europa für Verbrechen begingen, wird mit zunehmender Zeit nicht geringer. Die Quellen, durch welche die Opfer dieser Verbrechen nicht nur Zahlen in einer Statistik bleiben, sondern persönlich in Erinnerung gerufen werden, indem ihre Geschichte erzählt werden kann, sind zum jetzigen Zeitpunkt schon – je nach Fall – schwierig genug zu erschließen. Deswegen ist es so wichtig, dass wir jetzt zurückdenken und die Erinnerungen sichern, damit das Ziel der Nationalsozialisten, nicht nur die jüdische Bevölkerung, sondern auch jegliche Erinnerungen an sie auszulöschen, niemals auch nur annähernd erreicht werden kann.
Es fiel mir schwer, aus einer Liste von 21 jüdischen Schülerinnen der Königin-Luise-Schule (KLS) ein Mädchen auszuwählen, über das ausschließlich ich ein Jahr lang nachforschen sollte. Nicht nur, dass Mädchen mit unterschiedlichsten Schicksalen, Lebenszeiten und demnach auch Zeitpunkten, zu denen sie die KLS besuchten, zur Auswahl standen. Es kam mir auch wie eine gewaltige Verantwortung vor, die ich mit der Entscheidung für ein Mädchen erhielt. Von meiner Forschung könnte maßgeblich abhängen, wie viel Erinnerung an ,,mein Mädchen“ und auch an ihre gesamte Familie bleiben würde. Da ich aber fand, dass alle aufgeführten Mädchen es verdienten, an sie zu erinnern, traf ich meine Entscheidung letztlich auf einer weniger persönlichen Grundlage. Ich suchte mir Irmgard Weiler aufgrund ihres Recherchefalls aus.
Es war bei Irmgard Weiler eine gewisse Grundlage an Rahmeninformationen über ihr Leben gegeben. Doch darüber hinaus ließ sich vorher nicht viel über sie sagen. Ich fand es spannend zu sehen, wie weit ich es schaffen könnte, das Leben eines Mädchens zu rekonstruieren, das vor über 100 Jahren geboren wurde. Es war mir wichtig, mehr als nur einen Rahmen als Erinnerung an Irmgard entstehen zu lassen. Ich war der Ansicht, je mehr ich über sie herausfinden würde, desto gerechter würde ich meiner Verantwortung, nicht nur einen Namen mit ein paar Eckdaten zu hinterlassen. Mir war aber auch klar, dass das schwierig und vielleicht auch nicht möglich sein würde.
Irmgard Anna (oder auch Anni) Weiler wurde am 4.12.1907 in Bonn geboren. Sie lebte mit ihren Eltern von ihrer Geburt an bis 1926 in Elberfeld (heutiger Stadtteil Wuppertals), wo ihr Vater Max Weiler als Laborchemiker bei den “Farbenfabriken Bayer” arbeitete. 1927 machte sie an der Königin-Luise-Schule in Köln ihr Abitur, wobei sie im selben Jahr mit ihren Eltern nach Leverkusen zog. Am 3.12.1936 verstarb Irmgards Mutter nach langer Krankheit, nachdem die Familie 1934 nach Opladen (heutiger Stadtteil Leverkusens) gezogen war. Schließlich wurden Irmgard und ihr Vater am 27.10.1941 gemeinsam in das Ghetto Litzmannstadt deportiert. Dort lebten beide getrennt, bis der Vater am 18.5.1942 starb und Irmgard im September desselben Jahres in das Vernichtungslager Kulmhof deportiert und dort umgebracht wurde. Irmgard Weiler starb also im Alter von 34 Jahren und überlebte dennoch ihre beiden Eltern.
Bei Familie Weiler handelte es sich um eine wohlhabende, bildungsbürgerliche Familie der oberen Mittelschicht.
Max Weiler (*28.6.1872 in Brakel bei Höxter im heutigen NRW) war Doktor für Naturwissenschaften und arbeitete ab 1899 in den ,,Farbenfabriken Bayer“ in Elberfeld als Laborchemiker in der Rosalininabteilung, wo er bis zum Abteilungsvorstand mit Prokura, d.h. mit der Befugnis, die Firma geschäftlich zu vertreten, aufstieg. Davor lebte er eine Zeit lang in Bielefeld und wollte eigentlich an der Universität Rostock habilitieren. Doch er wurde aus ,,konfessionellen Gründen“ abgelehnt. Hier werden schon die antisemitischen Ansichten und Stimmungen, die lange Zeit vor der NS-Diktatur in Deutschland herrschten, deutlich.
Therese Julie Weiler (geb. Sichel, * 10.5.1881 in Kassel) war zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit mit Max, die drei Jahre später am 12.9.1904 stattfand, ohne Beruf und es ist auch davon auszugehen, dass sie, um die drei Jahre später geborene Irmgard aufzuziehen, auch danach keine Arbeit aufnahm. Allerdings kam Therese ursprünglich auch aus einer wohlhabenden, wenn nicht sogar reichen, Familie. Ihr Vater, Gustav Sichel (29.2.1848 – 11.1.1922 in Kassel), war Kaufmann und Teilhaber der Firma ,,Fiorino & Sichel“. Er gründete diese im Jahre 1885 und betrieb seitdem zusammen mit dem bekannten Bankier sowie Kunstsammler und -förderer Alexander Fiorino das Bankhaus. Auch sein Sohn Karl Hermann Sichel (26.1.1886 in Kassel – 1972 in Johannesburg), Thereses Bruder und damit Irmgards Onkel, ging einer angesehenen Arbeit nach. Er machte 1910 seinen Abschluss als Diplomingenieur und war ab 1916 Regierungsbaumeister. Er heiratete am 11.12.1918 die Jüdin Frieda Henriette Gotthelft (15.5.1889 in Kassel – 5.7.1976 in Johannesburg), mit der er in der Weinbergstraße 9 in Kassel und ab 1923 in der Malsburgerstraße 12 in Kassel lebte und welche einen Doktor für Wirtschaftswissenschaften besaß. Das war zur damaligen Zeit für Frauen sehr schwierig, da es kaum Gymnasien für Mädchen gab und Professoren an deutschen Universitäten das Recht hatten, sie nicht unterrichten zu müssen. Das Ehepaar genoss nicht nur in der jüdischen Gemeinschaft hohes Ansehen. Karl diente als Soldat im Ersten Weltkrieg und wurde nach seiner Ernennung zum Regierungsbaumeister später im Jahre 1925 selbstständiger Architekt mit hoher Position in zahlreichen Berufsverbänden wie z.B. dem ,,Bund Deutscher Architekten“ (BDA), der insbesondere auch für die jüdische Gemeinde in Kassel Denkmäler und Gedenktafeln in Synagogen und auf jüdischen Friedhöfen errichtete. Frieda engagierte sich ebenso in hohem Maße für die jüdische Gemeinschaft, was besonders in ihrer Hilfe für zahlreiche Juden, die 1933 aus Deutschland auswandern wollten, bestand. Außerdem machte sie sich für Frauen und deren Rechte stark, weswegen sie auch nach dem Abschluss ihres Studiums 1915 geschäftsführendes Mitglied einer Vereinigung für Volkswirte wurde, was sie wiederum zum Halten zahlreicher Vorträge und Seminare an Volkshochschulen animierte. Später leitete sie über mehrere Jahre den von ihr gegründeten ,,Kasseler Hausfrauenverein“.
Das Ehepaar Frieda und Karl Sichel (links) sowie ihre beiden Kinder Gerhard und Anna (rechts) 1935
https://www.kassel-stolper.com/biografien/familie-sichel/
Auch Thereses anderer Bruder Max Sichel (19.5.1878 in Kassel – 27.2.1946 in London), der wie sein Vater im Bankwesen arbeitete, heiratete eine Frau aus der Familie der Gotthelfts. Am 14.8.1907 ehelichte er Therese Emmi Gotthelft (*12.9.1884 in Dresden). Dasselbe gilt auch für Irmgards Großvater Gustav Sichel, der Anna Gotthelft (29.5.1859 – 14.1.1916 in Kassel) am 8.8.1877 zur Frau genommen hatte.
Es ist davon auszugehen, dass die Ehen der Kinder von Gustav Sichel und Anna Sichel vermittelt wurden. Dazu zählt auch die Heirat von Irmgards Eltern. Heiratsvermittlung unter jüdischen Familie ist bis heute eine Tradition, an der oftmals noch festgehalten wird. Dass auch Familie Sichel sehr wahrscheinlich durch Vermittlung Hochzeiten schließen ließ, kann man hauptsächlich an zwei Anzeichen erkennen. Erstens ist es üblich, diese Vermittlungen innerhalb großer jüdischer Familie abzuhalten. In diesem Fall ist besonders auffällig, dass beide Onkel sowie der Großvater Irmgards jeweils eine Frau aus der jüdischen Familie Gotthelft ehelichten. Karl Hermann Sichel heiratete mit Frieda Gotthelft eine entfernte Cousine, was zeigt, wie verbunden die Familien Sichel und Gotthelft durch die zahlreichen Ehen waren.
Zweitens ist ein Merkmal von Heiratsvermittlungen damaliger Zeit, dass in der Heiratsurkunde Geburts- oder Wohnort der Frau und nicht der des Mannes angegeben wurde. So wurde auch bei der Hochzeit von Irmgards Eltern, Max und Therese, Kassel bzw. Thereses Geburtsort angeben, obwohl Max Weiler bereits in Elberfeld lebte und Therese vermutlich schon bei ihm eingezogen war. Sehr wahrscheinlich zogen die beiden im Zeitraum zwischen 1902 und 1904 zusammen, d.h. vor oder spätestens zur Hochzeit am 12.9.1904. Denn während Max Weiler 1901 noch in der Königstraße 168 in Elberfeld wohnte, so war er 1905 in der Moritzstraße 48 (ebenfalls Elberfeld) registriert. Adressbücher für Elberfeld in den Jahren dazwischen waren leider nicht verfügbar, was den genauen Zeitpunkt des Umzugs unklar lässt, dennoch liegt die Vermutung nah, dass der Umzug gleichzeitig auch das Zusammenziehen mit Therese in die Moritzstraße bedeutete.
Aus der Beachtung der Tradition der Vermittlung, welche für die Erschaffung einer rein jüdischen Großfamilie sorgte, geht hervor, dass die Familie Sichel dem jüdischen Glauben einen sehr hohen Stellenwert in ihrem Leben gab. Zumindest war es ihnen wichtig, ihn in der Familie zu erhalten. Ob sie im alltäglichen Leben, z.B. durch einen samstäglichen Gang in die Synagoge, diesen Glauben auch ausübten, bleibt unklar.
Ob in Irmgards Familie auf väterlicher Seite (Familie Weiler) auch so streng auf einen rein jüdischen Stammbaum geachtet wurde, ließ sich nicht genau erschließen. Aber es liegt nahe, da die Eltern von Max Weiler, Joseph und Rosalie Weiler (geborene Meseritz), sich bewusst entschlossen, rein jüdisch zu heiraten - genau wie Irmgards Vater, der bewusst in eine streng jüdische Familie einheiratete.
Irmgard wuchs also im Kreise einer großen, gläubigen, wohlhabenden und nicht zuletzt gebildeten Familie auf. Ihr Vater, ihre beiden Onkel und auch ihr Großvater hatten gut bezahlte, honorierte Berufe und waren sowohl als Deutsche als auch als Juden sehr angesehen und in hohen Positionen der Gesellschaft teilweise auch sehr einflussreiche Männer. Zusätzlich war Irmgards Tante und Frau von Karl Sichel, Frieda Gotthelft, eine Vorreiterin der damals modernen Frau, die studierte, einen Doktortitel erwarb und beruflich und politisch sehr aktiv war, während sie aber auch zwei Kinder, Anna (*1919 in Kassel) und Gerhard Sichel (*1923 in Kassel), großzog. Schließlich kümmerte sich Irmgards Mutter Therese dabei zu Hause aller Wahrscheinlichkeit nach um ihr Kind. Umso größer war also die Fallhöhe der Familie.
Die Ausgangslage an Informationen über Irmgard Weilers Bildungsweg war interessant. Ihre Verbindung zur Königin-Luise-Schule stellte zu Beginn die einzige Forschungsgrundlage über den konkreten Ablauf ihres Lebens vor der NS-Zeit dar, aber ihr Name tauchte nicht in den Datenbanken des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln auf, in denen alle Namen jüdischer Opfer des Holocaust, die – zumindest eine Zeit lang - in Köln gelebt hatten, aufgeführt sind. Das war insofern ungewöhnlich, als dass Irmgard Weiler die KLS im Jahre 1927 nachweislich besuchte, was aus einer Schülerinnenliste der KLS desselben Jahres zu entnehmen ist.
Dass Irmgard und auch ihr Vater Max Weiler nicht als Opfer des Holocaust im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln zu finden sind, lässt sich mit in der Schülerinnenliste aufgeführten Informationen über die Heimat der Schülerinnen erklären. Von den 702 Schülerinnen, die die KLS zu diesem Zeitpunkt besuchten, kamen 71 Mädchen von außerhalb (bzw. 13 lebten in Pension und 58 waren Fahrschülerinnen). Irmgard Weiler muss eine von ihnen gewesen sein. Von 1926 bis 1934 lebte Irmgard mit ihrer Familie nämlich in der Schillerstraße 67 in Leverkusen. Der Umzug aus der Mozartstraße 48 in Elberfeld, die spätestens ab Irmgards Geburt den Wohnort der Familie Weiler darstellte, im Jahre 1926 kam aus beruflichen Gründen des Vaters zu Stande, da er in diesem Jahr in das IG-Farben-Werk in Leverkusen wechselte.
Man kann nun vermuten, dass Irmgard möglicherweise erst für das letzte Schuljahr auf die KLS wechselte, um dort ihr Abitur zu machen. Ein Schulwechsel Irmgards zur KLS im Zuge des Umzugs wäre denkbar, da es in ihrer neuen Heimat Opladen bzw. Leverkusen zu dieser Zeit kein vergleichbares Gymnasium für Mädchen gab. Die Marienschule Opladen, welche bis heute besteht, war zwar auch ein reines Mädchengymnasium – jedoch privat und katholisch. Der Weg von Leverkusen nach Köln ist außerdem ungefähr halb so lang wie die Anreise aus Elberfeld.
Aus der Schülerinnenliste selbst geht lediglich sicher hervor, dass Irmgard um Ostern 1927 ihr Abitur an der Königin-Luise-Schule machte. Als Berufswahl gab sie Handelskorrespondentin an. Ob sie demzufolge nach der Schule ein entsprechendes Studium antrat und ob sie den Beruf jemals ausüben konnte, bleibt unklar. Aber ab dem 8.7.1935 war ihr - als Jüdin – das Studium verboten. Nun brauchte nämlich jeder Deutsche, der ein Studium anstrebte, einen ,,Arier-Nachweis“, um Mitglied der ,,Reichsschaft der Studierenden“ sein zu dürfen. Möglich ist ohnehin, dass Irmgard sich um ihre kranke Mutter kümmern musste, auch da ihr Vater bis 1933 noch arbeitete und dann selbst ein hohes Alter von 61 Jahren erreicht hatte. Vielleicht zog sie wegen ihrer erkrankten Mutter und der nach ihrem Tod 1936 fehlenden Möglichkeit zu studieren bis zur Deportation 1941 nicht aus dem Haus ihres Vaters aus bzw. heiratete auch nicht. Einen anderen Juden zu heiraten, – wie es in ihrer Familie üblich war – war ihr schließlich durch die ,,Nürnberger Gesetze“ nicht verboten worden. Nur mit einem nicht-jüdischen Mann hätte sie ab dem 15.9.1935 keine Ehe mehr schließen können.
Ab der Machtergreifung der Nationalsozialisten verschlechterte sich die Lage der Familie Weiler sehr rasch auf drastische Art und Weise. Sie ergriffen jedoch nie die Flucht und unternahmen höchstwahrscheinlich auch zu keinem Zeitpunkt den Versuch.
Im Jahr der Machtergreifung 1933 bzw. der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler trat Max Weiler in den Ruhestand. Ein Jahr später verließ er die Leverkusener Eigenheimsiedlung und zog mit Irmgard und Therese in die Friedenberger Straße 12 nach Opladen. Der Umzug könnte bereits Thereses Krankheit geschuldet sein, da wir nur wissen, dass sie 1936 nach langer schwerer Krankheit starb, aber nicht, wie lange sie andauerte und um welche Krankheit es sich handelte. Dass dies für die Familie in einer Zeit, in der alle ihre Mitglieder ohnehin schon Tag für Tag durch neue diskriminierende Gesetze aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen wurden, sehr schwer gewesen sein muss, versteht sich von selbst.
Am 9.11.1938 wurde Max Weiler schließlich im Zuge der Reichspogromnacht verhaftet, mit welcher die vom NS-Regime organisierten und indizierten Gewaltausübungen gegen Juden, ihre Geschäfte, Wohnungen, Synagogen und Friedhöfe bezeichnet werden. Zudem wurde noch als sogenannte ,,Sühneleistung“ ein Großteil des Vermögens der Familie Weiler eingezogen. Zu dieser Verordnung kam es am 12.11. bzw. drei Tage nach der Pogromnacht, für welche die Juden nun also auch noch die finanziellen Schäden tragen sollten.
In der Pogromnacht selbst nahmen sich bereits zahlreiche Juden das Leben (über 400 wurden ermordet oder in den Selbstmord getrieben) und auch im weiteren Verlauf der NS-Diktatur war es für viele Juden wohl der einzige Ausweg sich umzubringen. So auch für Dr. Leo Rosenthal (*20.2.1886 in Saale), der wie Irmgards Vater als Chemiker für Bayer arbeitete und am 27.2.1939 Suizid beging. Auch er war während der Pogrome im November 1938 verhaftet worden und kam für den Zeitraum vom 17.11.1938 bis zum 12.12.1938 in das bayerische Konzentrationslager Dachau. Seine Frau, Käte Sara Rosenthal (geb. Lustig, * 7.12.1890 in Berlin) zog daraufhin 1940 zu Irmgard und Max in die Friedenberger Straße 12. Das Ehepaar Rosenthal hatte zuvor – wie Familie Weiler, als Max noch arbeitete – im Viertel Wiesdorf gelebt, in welchem das Bayer-Werk, in dem beide Männer angestellt waren, lag.
Für Irmgard, Max und Käthe endete diese Zeit der Verluste von geliebten Menschen, der immer massiver werdenden Einschränkungen im öffentlichen Leben und dem abrupten Schrumpfen des Wohlstandes und Ansehens in der Gesellschaft am 26.10.1941. Irmgard und Max Weiler sowie Käthe Rosenthal wurden an diesem Tag nach Düsseldorf gebracht. Gemeinsam wurden sie dann am Tag darauf, vier Tage nachdem die Auswanderung der Juden aus Deutschland komplett untersagt worden war, mit 1000 anderen Juden von Düsseldorf per Zug nach Litzmannstadt deportiert. Dabei handelte es sich um einen im Zentrum Polens unter deutscher Besatzung eingerichteten von der Außenwelt abgegrenzten Wohnbezirk für Juden. Da die Transporte nach Litzmannstadt erst seit dem 22.10.1941 stattfanden, muss man wohl davon ausgehen, dass keiner von ihnen richtig wusste, was sie erwartete.
Nun war es aber noch nicht vorbei. Am 25.11.1941 wurde Max und Irmgard Weiler sowie Käthe Rosenthal offiziell die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen, womit auch die Reste sämtlichen Besitzes an Geld und Eigentum verloren gingen. An diesem Tag trat nämlich die elfte Verordnung des Reichsbürgergesetzes in Kraft, die allen Juden, die die Staatsgrenze Deutschlands überquerten und ,,dort nicht nur vorübergehend verweil(en)“, zu Staatenlosen machte.
Im Ghetto Litzmannstadt lebte Max Weiler aufgrund seines hohen Alters (69 Jahre) im ,,Altenheim der Ältesten des Ghettos Litzmannstadt“ in der Gnesener Straße 26. Möglicherweise kam er jedoch nicht unmittelbar nach seiner Ankunft in das Heim, da auf Ancestry.de auch die Bolzengasse 26 als Wohnort im Ghetto angegeben wird. Man kann jedenfalls davon ausgehen, dass Irmgard und ihr Vater im Ghetto noch viel Kontakt hatten. Denn Irmgard wohnte in der Gnesener Straße 15 und war zudem noch Krankenschwester im Ghetto. Ihr Weg wird sie also auch beruflich regelmäßig zu ihrem Vater in das Altenheim geführt haben, bis er am 18.5.1942 schließlich im Altenheim verstarb. Hier könnte man von einem Tod, der auch durch hohes Alter bedingt wurde, ausgehen, was auch die Auskünfte des Stadtarchivs Leverkusen nahelegen. Jedoch ist Max Weiler in den Datenbanken von ,,Yad Vashem“ als ermordet gelistet. Allerdings umfasst diese Angabe, wie auf der Seite erklärt wird, richtigerweise auch den Tod eines Opfers im Ghetto oder Lager in Folge nicht ausreichender medizinischer Versorgung, welche in keinem Ghetto gegeben war. Letztlich sind seine genauen Todesumstände also nicht bekannt, es bleibt aber stark zu bezweifeln, dass er ohne die Deportation und den Aufenthalt im Ghetto Litzmannstadt zum selben Zeitpunkt seines Lebens verstorben wäre.
Gnesener Straße in Lodz (Litzmannstadt)
(http://www.emden-lodz.de/?Historie___Lodz; hier auch weitere Bilder aus Lodz und Chelmno)
Schließlich wurde auch noch die Freundin der Familie, Käthe Rosenthal, am 7.7.1942 in das Vernichtungslager Kulmhof deportiert und dort am darauffolgenden Tag ermordet. Irmgard erlitt im September desselben Jahres das gleiche Schicksal.
Als Todesdatum Irmgards kann der 8.9.1942 vermutet werden, was auf einen Ancestry-Kommentar unter ihrem Profil zurückgeht.
Eine der Deportationen von Litzmannstadt in das Vernichtungslager Kulmhof
(http://www.emden-lodz.de/?Historie___Lodz; hier auch weitere Bilder aus Lodz und Chelmno)
Irmgard Weiler, ihr Vater und Käthe Rosenthal gehören also zu den sechs Millionen Juden, die den Holocaust nicht überlebten. Viele von ihnen konnten nicht fliehen, andere wollten es nicht und letztlich dachten einige auch gar nicht darüber nach. Die Unterschätzung der Gefahr des NS-Regimes ist ein Grund für die enorme Anzahl der jüdischen Opfer. Vielleicht ging es Irmgard Weiler und ihrem Vater ähnlich. In jedem Fall ist es aufgrund ihrer Familiensituation sowohl erstaunlich als auch in gewisser Weise für mich nachvollziehbar, dass sie die Flucht nicht wagten.
Über die Frau von Irmgards Onkel Karl H. Sichel, Frieda Sichel, ist heute noch Vieles bekannt. Das liegt nicht nur an ihrem hohen Engagement und damit einhergehenden hohen Bekanntheitsgrad, welcher weit über die jüdische Gemeinschaft Kassels hinausreichte, sondern auch daran, dass sie 1935 mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern nach Südafrika auswanderte, wo sie sich sozial weiterhin in hohem Maße einbrachte und auch zwei Bücher über die jüdische Emigration aus dem Dritten Reich schrieb. In Kassel liegen für die vier Familienmitglieder Stolpersteine und es ist sogar eine Straße nach Frieda benannt worden. Ein Grund für ihre Bekanntheit ist auch, dass sie von 1933 bis zu ihrer eigenen Flucht zahlreichen deutschen Juden zur Emigration verhalf. Sie war nämlich Mitbegründerin der ,,Beratungsstelle für jüdische Wirtschaftshilfe und Aufbau“ und sorgte so dafür, dass Juden mit entsprechender Ausbildung auf die Arbeitssuche und -aufnahme im Ausland vorbereitet werden konnten.
Die Möglichkeit einer Flucht für Familie Weiler lag also in gewisser Weise schon in der Familie selbst. Irmgards anderer Onkel, Max Sichel, floh beispielsweise auch mit seiner Frau Therese Emmi Gotthelft nach England. 1939 ist ihr Wohnort in Hampstead, London registriert. Vermutlich flohen sie aber wie Frieda und Karl Sichel bereits früher, da eine Flucht nach England zu einem späteren Zeitpunkt, auch schon vor Kriegsbeginn im September 1939, schwierig bzw. unmöglich sein konnte. Lediglich sogenannte ,,Kindertransporte“, die darin bestanden, dass England, als Reaktion auf die Brutalität der Reichspogromnacht, Kinder, die maximal 17 Jahre alt sein durften, im eigenen Land aufnahm, waren vor dem Überfall Deutschlands auf Polen am 1.9.1939 erlaubt. Danach war eine Flucht nach England aus deutschem Staatsgebiet praktisch unmöglich.
Für mich eröffneten sich also wenige mögliche Gründe, warum weder Max noch Irmgard aus Deutschland flohen. Bis zum Tod von Therese – und eventuell auch danach - muss es für die Familie schwer gewesen sein, ihr Leben in Deutschland und den damit verbundenen Wohlstand zu verlassen. Immerhin war in einer Auskunft des Stadtarchivs Opladen von einer Haushälterin, Schmuck der Mutter und silbernen Gegenständen im Haus die Rede. Das „Gesetz über Änderung der Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer” im Jahre 1934 richtete sich insbesondere gegen Juden und machte es der Familie Weiler noch schwieriger, Einiges von ihrem Vermögen bei einer geplanten Auswanderung mitzunehmen.
Neben dem möglichen Unterschätzen der Gefahr und der Weigerung, ihr zufriedenstellendes Leben zu Beginn der NS-Zeit aufzugeben, halte ich den Effekt, den die lange Krankheit und der schlussendliche Tod Thereses auf die Familie gehabt haben muss, für einen zweiten Grund, weshalb Irmgard und Max womöglich nicht flohen. Möglicherweise machte der Zustand der Mutter eine gemeinsame Ausreise der Familie unmöglich und sie versuchten deshalb nicht – beispielsweise über Friedas Organisationen zur Auswanderung – das Land zu verlassen.
Dagegen spricht zwar, dass Irmgard und ihr Vater auch nicht nach Thereses Tod flohen. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt Frieda mit ihrer Familie schon seit über einem Jahr emigriert. Des Weiteren spielt die Mentalität bei einer Flucht immer eine tragende Rolle. Zu diesem Zeitpunkt als Jude aus Deutschland auszuwandern oder zu fliehen, erforderte enorme Risikobereitschaft, Entschlossenheit und Mut. Wegen der weltweiten Krise, die insbesondere wirtschaftlich erfolgreiche Migration fast unmöglich erscheinen ließ, war die Aussicht auf ein Leben in Armut in der neuen Heimat durchaus real. War Familie Weiler – nun nur noch aus Vater und Tochter bestehend – also nach dem Verlust von Therese entschlossen, dieses Risiko zu wagen? Auch wenn wir die genaueren Umstände niemals erfahren werden und ich hier deshalb nur meine Vermutungen äußern kann, so können diese letzten Jahre der Familie Weiler zweifelsfrei als pure Leidenszeit betrachtet werden. Im Nachhinein ist es leicht, die Flucht als einzigen Ausweg zu sehen, aber wenige hatten schon damals so einen klaren Blick auf die Dinge wie Irmgards Tante Frieda, die 1935 nach Einbestellung zur und Bedrohung durch die Gestapo (die geheime Staatspolizei der Nationalsozialisten) und dem Berufsverbot ihres Mannes im selben Jahr zu wissen schien, was noch alles auf sie zukommen könnte, wenn sie nicht mit ihrer Familie fliehen würde.
Es ist – meiner Ansicht nach - sehr beeindruckend, wie früh sie die Situation im Land bereits erkannte und bis zur eigenen Flucht gerade deswegen ihr Leben der Hilfe anderer Juden widmete. Sie schreibt dazu in ihrer Autobiografie: „Wir nahmen unsere Kinder, damals im Alter von zwölf und 15 Jahren, mit zum alten Bettenhäuser Friedhof, um ihnen die gepflegten Gräber der sieben Generationen unserer Familie zu zeigen, die dort zwischen 1824 und 1935 beerdigt wurden. Wir wollten, dass sie sich in den kommenden Jahren erinnern könnten, was es heißt, als unwillkommener Fremder in einem Land betrachtet zu werden, in dem die Familie tiefe Wurzeln hatte und einen guten, respektvollen Namen hinterließ.“
Die Stolpersteine der Familie von Frieda in Kassel
(Die Kinder Anna und Gerhard wurden wenige Monate nach der Auswanderung der Eltern nachgeholt)
(https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Kassel)
Irmgard Weiler überlebte also sowohl ihre Mutter als auch ihren Vater mit einem Sterbealter von 34 Jahren. Innerhalb von einem Jahrzehnt wurde ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt und schließlich beendet. Während Irmgard, die eigentlich eine Karriere als Handelskorrespondentin anstreben wollte, Anfang der 1930er Jahre noch die Tochter einer wohlhabenden, intellektuellen und auch gesellschaftlich angesehenen Familie in einem Land in der Krise war, so entwickelten sich mit dem Regierungsantritt der NSDAP schrittweise immer neue und schlimmere Gefahren und Leiden für Irmgard, die schließlich für sie und ihren Vater in Deportation und Tod endeten.
Dabei hatte Irmgards Leben durchaus vielversprechend begonnen. Sie bekam die Chance, auf ein Gymnasium zu gehen, was zu dieser Zeit nur für ein Mädchen mit sehr wohlhabenden Eltern überhaupt denkbar war. Außerdem könnte ihr Berufswunsch der Handelskorrespondentin ein Anzeichen für eine positive Einstellung gegenüber dem Erkunden, Entdecken oder zumindest der Beschäftigung mit anderen Orten gewesen sein. Dass dieses Mädchen, welches sich für die Zukunft womöglich ein Leben in unterschiedlichsten Städten und Ländern vorgestellt hatte, das letzte Jahr ihres Lebens eingesperrt verbrachte, nachdem es in den zehn Jahren zuvor im eigenen Land Schritt für Schritt ihrer eigenen Freiheit und somit auch Mobilität beraubt worden war, auch noch ihre Familie vor ihrer eigenen Ermordung verliert, ist letztlich an Grausamkeit schwer zu überbieten.
Für mich ist der Fall Irmgards einzigartig bedauerlich. Die Kombination aus Schmerz und Verlust in der eigenen Familie und den hasserfüllten Angriffen, denen alle Juden gleichermaßen ausgesetzt waren, ist für mich unvorstellbar. Hinzu kommt beim Blick auf die Familie die Erkenntnis, dass eine Flucht durchaus möglich gewesen zu sein scheint, man jedoch zurückblieb, während andere auswanderten und die Chance auf ein neues Leben bekamen.
Als Irmgard in ungefähr meinem Alter auf meiner jetzigen Schule ihr Abitur machte – so wie ich es jetzt machen werde – hatte sie von all dem noch keine Ahnung. Dass ihr Leben 15 Jahre später in einem Vernichtungslager in Polen enden sollte, kann für sie – so wie für alle anderen Opfer eines bis dahin in dieser Form nicht einmal annähernd stattgefundenen Genozids – nicht denkbar gewesen sein. Damit so etwas nie wieder passieren kann, muss man sich – meiner Ansicht nach - regelmäßig mit den Realitäten, die jetzt etwa 70 Jahre zurückliegen und dadurch aber nicht an Bedeutung verloren haben, konfrontieren.
Quellen:
https://www.kassel-stolper.com/biografien/familie-sichel/ (zu Familie Sichel);
https://www.vorderer-westen.net/ (Familie Sichel);
http://www.emden-lodz.de/?Historie___Lodz (Bilder aus Lodz und Chelmno);
Herzlich gedankt sei vor allem auch den Mitarbeitern des Stadtarchivs Leverkusen für wesentliche Informationen zu Familie Weiler.