Bei Familie Weiler handelte es sich um eine wohlhabende, bildungsbürgerliche Familie der oberen Mittelschicht.
Max Weiler (*28.6.1872 in Brakel bei Höxter im heutigen NRW) war Doktor für Naturwissenschaften und arbeitete ab 1899 in den ,,Farbenfabriken Bayer“ in Elberfeld als Laborchemiker in der Rosalininabteilung, wo er bis zum Abteilungsvorstand mit Prokura, d.h. mit der Befugnis, die Firma geschäftlich zu vertreten, aufstieg. Davor lebte er eine Zeit lang in Bielefeld und wollte eigentlich an der Universität Rostock habilitieren. Doch er wurde aus ,,konfessionellen Gründen“ abgelehnt. Hier werden schon die antisemitischen Ansichten und Stimmungen, die lange Zeit vor der NS-Diktatur in Deutschland herrschten, deutlich.
Therese Julie Weiler (geb. Sichel, * 10.5.1881 in Kassel) war zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit mit Max, die drei Jahre später am 12.9.1904 stattfand, ohne Beruf und es ist auch davon auszugehen, dass sie, um die drei Jahre später geborene Irmgard aufzuziehen, auch danach keine Arbeit aufnahm. Allerdings kam Therese ursprünglich auch aus einer wohlhabenden, wenn nicht sogar reichen, Familie. Ihr Vater, Gustav Sichel (29.2.1848 – 11.1.1922 in Kassel), war Kaufmann und Teilhaber der Firma ,,Fiorino & Sichel“. Er gründete diese im Jahre 1885 und betrieb seitdem zusammen mit dem bekannten Bankier sowie Kunstsammler und -förderer Alexander Fiorino das Bankhaus. Auch sein Sohn Karl Hermann Sichel (26.1.1886 in Kassel – 1972 in Johannesburg), Thereses Bruder und damit Irmgards Onkel, ging einer angesehenen Arbeit nach. Er machte 1910 seinen Abschluss als Diplomingenieur und war ab 1916 Regierungsbaumeister. Er heiratete am 11.12.1918 die Jüdin Frieda Henriette Gotthelft (15.5.1889 in Kassel – 5.7.1976 in Johannesburg), mit der er in der Weinbergstraße 9 in Kassel und ab 1923 in der Malsburgerstraße 12 in Kassel lebte und welche einen Doktor für Wirtschaftswissenschaften besaß. Das war zur damaligen Zeit für Frauen sehr schwierig, da es kaum Gymnasien für Mädchen gab und Professoren an deutschen Universitäten das Recht hatten, sie nicht unterrichten zu müssen. Das Ehepaar genoss nicht nur in der jüdischen Gemeinschaft hohes Ansehen. Karl diente als Soldat im Ersten Weltkrieg und wurde nach seiner Ernennung zum Regierungsbaumeister später im Jahre 1925 selbstständiger Architekt mit hoher Position in zahlreichen Berufsverbänden wie z.B. dem ,,Bund Deutscher Architekten“ (BDA), der insbesondere auch für die jüdische Gemeinde in Kassel Denkmäler und Gedenktafeln in Synagogen und auf jüdischen Friedhöfen errichtete. Frieda engagierte sich ebenso in hohem Maße für die jüdische Gemeinschaft, was besonders in ihrer Hilfe für zahlreiche Juden, die 1933 aus Deutschland auswandern wollten, bestand. Außerdem machte sie sich für Frauen und deren Rechte stark, weswegen sie auch nach dem Abschluss ihres Studiums 1915 geschäftsführendes Mitglied einer Vereinigung für Volkswirte wurde, was sie wiederum zum Halten zahlreicher Vorträge und Seminare an Volkshochschulen animierte. Später leitete sie über mehrere Jahre den von ihr gegründeten ,,Kasseler Hausfrauenverein“.

Das Ehepaar Frieda und Karl Sichel (links) sowie ihre beiden Kinder Gerhard und Anna (rechts) 1935
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Auch Thereses anderer Bruder Max Sichel (19.5.1878 in Kassel – 27.2.1946 in London), der wie sein Vater im Bankwesen arbeitete, heiratete eine Frau aus der Familie der Gotthelfts. Am 14.8.1907 ehelichte er Therese Emmi Gotthelft (*12.9.1884 in Dresden). Dasselbe gilt auch für Irmgards Großvater Gustav Sichel, der Anna Gotthelft (29.5.1859 – 14.1.1916 in Kassel) am 8.8.1877 zur Frau genommen hatte.
Es ist davon auszugehen, dass die Ehen der Kinder von Gustav Sichel und Anna Sichel vermittelt wurden. Dazu zählt auch die Heirat von Irmgards Eltern. Heiratsvermittlung unter jüdischen Familie ist bis heute eine Tradition, an der oftmals noch festgehalten wird. Dass auch Familie Sichel sehr wahrscheinlich durch Vermittlung Hochzeiten schließen ließ, kann man hauptsächlich an zwei Anzeichen erkennen. Erstens ist es üblich, diese Vermittlungen innerhalb großer jüdischer Familie abzuhalten. In diesem Fall ist besonders auffällig, dass beide Onkel sowie der Großvater Irmgards jeweils eine Frau aus der jüdischen Familie Gotthelft ehelichten. Karl Hermann Sichel heiratete mit Frieda Gotthelft eine entfernte Cousine, was zeigt, wie verbunden die Familien Sichel und Gotthelft durch die zahlreichen Ehen waren.
Zweitens ist ein Merkmal von Heiratsvermittlungen damaliger Zeit, dass in der Heiratsurkunde Geburts- oder Wohnort der Frau und nicht der des Mannes angegeben wurde. So wurde auch bei der Hochzeit von Irmgards Eltern, Max und Therese, Kassel bzw. Thereses Geburtsort angeben, obwohl Max Weiler bereits in Elberfeld lebte und Therese vermutlich schon bei ihm eingezogen war. Sehr wahrscheinlich zogen die beiden im Zeitraum zwischen 1902 und 1904 zusammen, d.h. vor oder spätestens zur Hochzeit am 12.9.1904. Denn während Max Weiler 1901 noch in der Königstraße 168 in Elberfeld wohnte, so war er 1905 in der Moritzstraße 48 (ebenfalls Elberfeld) registriert. Adressbücher für Elberfeld in den Jahren dazwischen waren leider nicht verfügbar, was den genauen Zeitpunkt des Umzugs unklar lässt, dennoch liegt die Vermutung nah, dass der Umzug gleichzeitig auch das Zusammenziehen mit Therese in die Moritzstraße bedeutete.
Aus der Beachtung der Tradition der Vermittlung, welche für die Erschaffung einer rein jüdischen Großfamilie sorgte, geht hervor, dass die Familie Sichel dem jüdischen Glauben einen sehr hohen Stellenwert in ihrem Leben gab. Zumindest war es ihnen wichtig, ihn in der Familie zu erhalten. Ob sie im alltäglichen Leben, z.B. durch einen samstäglichen Gang in die Synagoge, diesen Glauben auch ausübten, bleibt unklar.
Ob in Irmgards Familie auf väterlicher Seite (Familie Weiler) auch so streng auf einen rein jüdischen Stammbaum geachtet wurde, ließ sich nicht genau erschließen. Aber es liegt nahe, da die Eltern von Max Weiler, Joseph und Rosalie Weiler (geborene Meseritz), sich bewusst entschlossen, rein jüdisch zu heiraten - genau wie Irmgards Vater, der bewusst in eine streng jüdische Familie einheiratete.
Irmgard wuchs also im Kreise einer großen, gläubigen, wohlhabenden und nicht zuletzt gebildeten Familie auf. Ihr Vater, ihre beiden Onkel und auch ihr Großvater hatten gut bezahlte, honorierte Berufe und waren sowohl als Deutsche als auch als Juden sehr angesehen und in hohen Positionen der Gesellschaft teilweise auch sehr einflussreiche Männer. Zusätzlich war Irmgards Tante und Frau von Karl Sichel, Frieda Gotthelft, eine Vorreiterin der damals modernen Frau, die studierte, einen Doktortitel erwarb und beruflich und politisch sehr aktiv war, während sie aber auch zwei Kinder, Anna (*1919 in Kassel) und Gerhard Sichel (*1923 in Kassel), großzog. Schließlich kümmerte sich Irmgards Mutter Therese dabei zu Hause aller Wahrscheinlichkeit nach um ihr Kind. Umso größer war also die Fallhöhe der Familie.