Liese Lotte Samuel

von Luca Wielage

Ein verlorenes, ein wiederentdecktes Leben: Liese Lotte und Hannah Liese Samuel

Liese Lotte Samuel war zur Zeit des Nationalsozialismus Schülerin an der Königin-Luise-Schule in Köln. Sie wurde, ebenso wie ihre Mutter und ihr Vater, in Auschwitz ermordet. Ihre Schwester Hannah Liese war ebenfalls Schülerin an der KLS. Sie und ihr Bruder sind die einzigen aus ihrer Familie, die das Dritte Reich überlebten, da beide rechtzeitig nach London fliehen konnten. Hannah Liese verstarb am 12. November 2013.

 

Kindheit und Jugend

Häuserreihe am Neumarkt, Nr. 1 A - 7

Häuserreihe am Neumarkt, Nr. 1 A - 7

Ruthilde Hannah Liese Samuel wurde am 29.06.1920 als ältestes von drei Kindern einer jüdischen Familie in Köln geboren. Ihr Vater war Dr. Maximilian Samuel (* 1880 in Frechen), anerkannter Gynäkologieprofessor mit eigener Praxis in Köln, ihre Mutter war Hedwig Anna Samuel, geb. Marcks (* 1893). Hannahs kleiner Bruder Hans-Herbert oder John - der Bruder wird in verschiedenen Quellen jeweils anders genannt - war ein Jahr jünger (* 1921), ihre Schwester Liese Lotte (* 25.08.1923) drei Jahre jünger als sie.
Die fünfköpfige Familie lebte von 1915 bis 1933 am Neumarkt Hausnummer 1D in einer Eigentumswohnung. Dann zogen sie um in den Hohenstaufenring 74-76, bis sie letztendlich zwei Jahre später, 1935, in den Salierring 50 zogen, ebenfalls in eine Eigentumswohnung. Der Vater besaß auch einen Telefonanschluss, finanzielle Probleme besaß die Familie zu der Zeit also keine.

Hohenstaufenring 74-76

Hohenstaufenring 74-76


Da beide Eltern sowie sie selbst dem jüdischen Glauben angehörten, hatten Hannah Liese und Liese Lotte laut den nationalsozialistischen Kriterien den Status einer „Volljüdin“ bzw. „Geltungsjüdin“. Ihr Vater Max war jedoch Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg, wurde fünfmal verwundet und später mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet, weswegen die Familie von manchen Verfolgungsmaßnahmen des Regimes zunächst ausgenommen war. Für die Kinder bedeutete dies vor allem, dass erstmal eine weiterführende Bildung im deutschen Schulsystem für sie möglich blieb.

Schulische Laufbahn

Seit 1922 war der 30.06. Stichtag, in der Regel wurden nur Kinder, die bis dahin ein Alter von sechs Jahren erreicht hatten, eingeschult. In manchen Fällen war aber auch eine frühere Einschulung möglich; dies scheint bei Liese Lotte der Fall gewesen zu sein. Hannah Lieses Einschulung in die Grundschule wird also im Jahre 1926 (wie üblich zu Ostern) erfolgt sein. Ihre kleine Schwester Liese Lotte dürfte Ostern 1929 auf die Grundschule gekommen sein. Die Versetzung in eine weiterführende Schule erfolgte in der Regel dann vier Jahre später, im Jahre 1930 müsste Hannah Liese auf der KLS eingeschult worden sein. Liese Lotte ist uns durch eine Schülerinnenliste aus dem Jahr 1933 als Schülerin der KLS bezeugt, sie wird also Ostern 1933 aufgenommen worden sein und muss demnach noch mit 5 Jahren, Ostern 1929, auf die Grundschule gekommen sein.
Ab dem Jahre 1933, Hannah Liese muss nun in der Quarta (der siebten Klasse), Liese Lotte in der Sexta (der fünften Klasse) gewesen sein, begannen die vom Staat eingeführten schulischen Beschränkungen für jüdische Schülerinnen und Schüler. Dies war vor allem das "Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen", das im April 1933 erlassen wurde und rückwirkend in Kraft trat. Dieses Gesetz beschränkte die Zahl der Neuaufnahmen jüdischer Schüler auf 1,5%, ihren Anteil an der Gesamtzahl auf 5%; alle "Überzähligen" mussten die Schulen verlassen. Theoretisch galt der zweite Aspekt für Liese Lotte, der erste auch für Hannah Liese. Aufgrund des "Frontkämpferprivilegs" ihres Vaters müssen sie aber verschont geblieben sein.
Doch am 15.11.1938 trat der Erlass in Kraft, welcher Juden offiziell verbot, eine "deutsche" Schule zu besuchen. Dieses Mal müssen auch Hannah Liese und Liese Lotte sowie ihr Bruder betroffen gewesen sein. Liese Lotte wäre zu diesem Zeitpunkt in der Untersekunda (der 10. Klasse) gewesen, Hannah Liese in der Oberprima (der 13. Klasse); theoretisch hätte sie ihr Abitur Ostern 1939 erhalten. Durch den Erlass wäre sie jedoch kurz vor ihrem Abitur von der Schule verwiesen worden, und auch ihren jüngeren Geschwistern muss ein deutscher Schulabschluss verwehrt geblieben sein. Allerdings wissen wir nicht, ob sich die beiden Schwestern zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch auf der KLS befanden, oder ob sie die Schule wegen der immer weiter zunehmenden Einschränkungen und Diskriminierungen schon früher verlassen hatten und beispielsweise auf die Jawne gewechselt waren. Zwar legen Vergleichsfälle nahe, dass es für jüdische Schülerinnen durchaus noch möglich war, bis 1938 auf der KLS zu bleiben; eine größere Zahl hat es aber nicht bis dahin "ausgehalten". Auch der Bruder Hans-Herbert (oder John) hat seine Schule früher verlassen, da er nachweislich bereits vor Hannahs Emigration 1938 in der englischen Hauptstadt war.
Anzumerken ist, dass nichts über Hannah Lieses oder Liese Lottes schulische Laufbahn offiziell bekannt ist, abgesehen von der Tatsache, dass sie Schülerinnen der KLS waren. Die von mir in diesem Kapitel dargestellten Informationen sind mit den historischen Gegebenheiten in Verbindung gesetzt worden und können zum jetzigen Zeitpunkt nicht mit Fakten belegt werden.
(Siehe den Nachtrag ganz unten)

Das Schicksal der Familie Samuel

Ab dem Zeitpunkt der Ausreise der Familie aus Deutschland teilen sich die Quellen und es lässt sich kaum auseinander halten, was genau das Schicksal der Familie Samuel ist. Fest steht jedoch, dass Hannah Liese noch im Jahre 1938 vor dem NS-Regime nach London floh, ihrem kleinen Bruder hinterher, und dass sie ab diesem Zeitpunkt ihre Eltern und jüngste Schwester nie wieder gesehen hat. Ob dies bereits vor der "Reichspogromnacht" vom 09.11.1938 stattfand oder erst nach dem Schockerlebnis dieses Gewaltexzesses, ist nicht bekannt. Dass die Eltern Hannah Liese gehen ließen, mag daran gelegen haben, dass sie zu dieser Zeit schon volljährig war. Die "kleine" Liese Lotte blieb vielleicht in Deutschland, weil die Eltern meinten, dass das für sie sicherer sei - ein fataler Fehler, wie sich später zeigte.

Laut den offiziellen Stolpersteinen der Familie, verlegt vor ihrer alten Wohnung am Hohenstaufenring 74-76, sollen ihre Eltern und Liese Lotte nach Belgien geflohen sein, dann im berüchtigten Sammellager Drancy interniert und anschließend 1942 nach Auschwitz deportiert worden sein. Zu Hannah Liese selbst sind nur die Angaben „deportiert Richtung Osten, ???“ vorhanden, ihr Bruder ist gar nicht erwähnt. Die Angaben zu Hannah Liese entsprechen dabei nicht der Realität. Dieser Irrtum konnte erst durch die in dieser Arbeit präsentierten Recherchen korrigiert werden; der Stolperstein am Hohenstaufenring ist inzwischen durch einen neuen mit korrekter Inschrift ersetzt worden.

Stolperstein Ruthilde Samuel

(https://museenkoeln.de/ns-dokumentationszentrum/default.aspx?s=2523&sfrom=1202&stid=1806&str=Hohenstaufenring%2074/76%20-%20K%C3%B6ln&buchstabe=H)


Auf der Website dignitymemorial.com ist eine Todesanzeige für Hannah Liese unter dem Namen „Hannah Gerson“ zu finden. Der Nachruf enthält eine detaillierte Lebensgeschichte, die Informationen sollen aus Hannahs Autobiografie stammen. Laut dem Artikel wurde Hannah Liese von ihren Eltern per Flugzeug nach London geschickt, um Probleme an der deutschen Grenze zu vermeiden. Später sollen ihre Eltern mit ihrer jüngeren Schwester Richtung Brüssel in Belgien geflohen sein. Warum ihre Eltern und 15-jährige Schwester sich dem Flug nicht angeschlossen haben, ist nicht angegeben, es könnte jedoch an Geldmangel gelegen haben, da jüdische Ärzte im Laufe der „Arisierung“ ihre Zulassung verloren und es keine Informationen darüber gibt, dass die Mutter der beiden Mädchen ebenfalls berufstätig war. Außerdem musste man bei der offiziellen Ausreise die so genannte "Reichsfluchtsteuer" bezahlen, die zu diesem Zeitpunkt bereits über 90% betrug; die Familie hätte also fast ihren gesamten verbliebenen Besitz verloren. Vielleicht scheiterte eine offizielle Ausreise, die ja unter den genannten Bedingungen von deutscher Seite durchaus noch erlaubt war, auch daran, dass die Familie keine Einreiseerlaubnis erhielt. Viele europäische Staaten weigerten sich nämlich, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen, oder es brauchte lange Wartezeiten, um ein Visum zu bekommen. Stattdessen reiste Liese Lotte also mit einem Kindertransport des Roten Kreuzes nach Belgien, Maximilian umging die Grenzkontrolle durch ein Versteck in einem Metzgerwagen, während die Mutter mithilfe von gefälschten Papieren ausreiste. Die Familie lebte daraufhin für kurze Zeit in Brüssel. Als schließlich 1939 der Krieg ausbrach, plante die Familie, in die Schweiz zu emigrieren. Der Versuch scheiterte aber, denn ein vermeintlicher „Helfer“ verriet die drei an die Gestapo, die Familie wurde daraufhin verhaftet und zunächst in das Sammellager Drancy nördlich von Paris gebracht.

Laut dem Nachruf auf Hannah Liese, der sich auf ihre Autobiographie beziehen soll, kam ihr Vater von dort in das KZ Auschwitz, ihre Mutter und Schwester wurden nach Theresienstadt geschickt. Dort angekommen verstarb Hedwig, so heißt es, an Typhus, Liese Lotte wurde vergast. Hier muss jedoch ein Fehler vorliegen, sei es in der Erinnerung Hannah Lieses, durch falsche Informationen, die sie hatte, oder durch einen Übertragungsfehler. Sicher ist, dass die ganze Familie von Drancy nach Auschwitz deportiert wurde, und zwar am 31.08.1942; sogar die Zugnummer ist bekannt (Transport 26, Zug 901-21). Hedwig Samuel wurde sofort nach der Ankunft ermordet, ihre Tochter Liese Lotte und auch, trotz seines Alters, Maximilian Samuel kamen nach Auschwitz III Monowitz zur Zwangsarbeit.

In Auschwitz

Die Rolle, die Maximilian Samuel in Auschwitz spielte, erscheint besonders tragisch, aber auch in mehrfacher Hinsicht sehr problematisch, da die vorliegenden Informationen sich vielfach widersprechen und kaum Klarheit zu gewinnen ist. Sicher scheint nur Folgendes zu sein.

Dr. Maximilian Samuel

Dr. Maximilian Samuel
(http://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=11622901&ind=6)


Maximilian Samuel sei mit der Anweisung, ihn rücksichtsvoll zu behandeln, nach Auschwitz gekommen. Dies wurde auch umgesetzt, der mittlerweile ältere Herr blieb vor der Gaskammer verschont. In der ersten Zeit in Auschwitz soll Samuel als Häftlingsarzt in Buna tätig gewesen sein, ein KZ, spezialisiert auf die Zwangsarbeit von Inhaftierten. Wenig später soll Dr. Samuel dann, als renommierter Gynäkologe, ja geradezu als Koryphäe auf seinem Gebiet, in den berüchtigten Block 10, den Medizinblock, versetzt worden sein. Er betrieb dort mit anderen Ärzten im Auftrag der SS Menschenversuche an weiblichen Häftlingen, im Lagerjargon "Kaninchen" genannt, und zwar Sterilisationsexperimente sowie andere gynäkologische Versuchsoperationen, die nähere Informationen für die Früherkennung von Krebs und die Entstehung von Krankheiten geben sollten. Maximilian Samuel war vor allem für die Entfernung des Gebärmutterhalses eingeteilt. Die Operationen wurden unter menschenunwürdigen, grausamen Bedingungen durchgeführt: Die Frauen wurden oft nicht narkotisiert und bekamen meistens auch keine Schmerzmittel oder angemessene Versorgung nach dem Eingriff; zudem erscheinen viele diese Versuche nicht nur menschenunwürdig, sondern auch sinnlos gewesen zu sein. Besonders erschütternd erscheint in diesem Zusammenhang der Bericht einer Überlebenden, Renée Düring, auch wenn es nur eine Geschichte unter vielen ist. Sie stammte ebenfalls aus Köln und war zu diesem Zeitpunkt etwa im Alter seiner Töchter, als sie als menschliches Versuchskaninchen ebenfalls von Dr. Samuel "behandelt" wurde; im Zuge dieser Behandlung wurden ihre Eierstöcke zerstört, sie überlebte nur knapp. Sie erinnerte sich an Dr. Samuel und er sich an sie, denn 20 Jahre zuvor hatte er sie in Köln selbst auf die Welt gebracht, in einer schweren Geburt, bei der es um ihr Leben und das Leben ihrer Mutter ging.

Nun stellt sich natürlich sofort die Frage, wie ein Mensch in der Lage sein kann, einem anderen Menschen bewusst solche unerträglichen Schmerzen zuzufügen. Oder in Dr. Samuels Fall noch zugespitzter: Wie kann ein jüdischer Arzt anderen Häftlingen, die ebenso Opfer des Nationalsozialismus sind wie er, dieses Leid antun?

Die Deutungen über das Verhalten und die Motive von Dr. Samuel gehen in der Literatur weit auseinander oder stehen sich sogar diametral gegenüber. So wird er zum Beispiel in Robert Jay Liftons Werk „Ärzte im Dritten Reich“ als „jüdischer medizinischer Kollaborateur" bezeichnet. Lifton sieht als Motiv Samuels Familie. Seine Frau soll direkt bei der Ankunft in Auschwitz ermordet und seine 19 Jahre alte Tochter, gemeint ist hier Liese Lotte, ins Arbeitslager eingeteilt worden sein. Durch seine, von anderen Häftlingsärzten als sehr „eifrig“ bezeichnete, Zusammenarbeit habe er die Sicherheit seiner Tochter garantieren wollen. Dies soll er bis zu einem Ausmaß verfolgt haben, dass er einen Brief an SS-Führer Heinrich Himmler schrieb, in welchem er mit Verweis auf seinen Status als Frontkämpfer um das Leben seiner Tochter flehte. Noch schärfer urteilt Hermann Langbein in seinem Werk "Menschen in Auschwitz". Hier heißt es mit Berufung auf Zeitzeugenaussagen, er habe in extremer Form folgenden Typ verkörpert: "Gefangene, die sich trotz großer Intelligenz und Lebenserfahrung, trotz Wissens um die Auschwitzer Vernichtungsmaschinerie weigerten, die Realität zur Kenntnis zu nehmen, und die irre Hoffnung nährten, sie könnten für sich eine Ausnahme erwirken." Zudem soll er andere Mithäftlinge bei der SS denunziert haben. In Hans-Joachim Langs Buch "Die Frauen von Block 10" schließlich findet sich noch die Behauptung, Samuel habe "bereits lange vor Auschwitz über die Früherkennung von Gebärmutterkrebs geforscht, sodass also mit der aktuellen Arbeit ein altes Interesse reaktiviert worden sei, und er habe deshalb die Versuchsreihen mit besonderem Engagement vorangetrieben".
Es finden sich aber auch ganz andere Sichtweisen, und auch sie berufen sich auf die Aussagen von Zeitzeugen. Demnach habe sich Dr. Samuel Mithäftlingen gegenüber freundlich benommen und habe mehrfach Frauen aktiv geholfen. Auch habe er Eingriffe übernommen, damit sie nicht von anderen, unfähigen Operateuren mit schlimmeren Folgen ausgeführt würden. Oder er habe seine "Aufträge" weniger weit ausgeführt, als er hätte sollen, und er habe damit manchen Frauen die Fähigkeit erhalten, noch Kinder bekommen zu können.
Die gleiche Widersprüchlichkeit rankt sich um den Tod von Dr. Samuel. Sicher ist nur, dass er wohl im Jahr 1943 erschossen worden ist, ohne dass jemals ein offizieller Grund angegeben wurde. Seine ehemaligen Kollegen unter den Häftlingsärzten gaben verschiedene Gründe an, doch sie waren sich einig, dass Dr. Samuel in den Augen der Nazis zu viel gewusst haben muss. Er war, so Lifton, zum „Geheimnisträger“ geworden.
Nach anderen Quellen soll Samuel ermordet worden sein, weil er Schein- oder Teiloperationen vornahm, während Renée Düring aussagt: Dr. Samuel sei, nach dem Fertigstellen seines medizinischen Buches über die Entstehung und Ausbreitung von Krebs, erschossen worden, damit seine Forschungsergebnisse unter dem Namen eines SS-Arztes veröffentlicht werden konnten. Möglich ist auch, dass ihm der Brief an Heinrich Himmler zum Verhängnis wurde. Oder vielleicht waren die Versuchsreihen einfach abgeschlossen und er hatte damit seinen Wert für die SS verloren.

Was nun auch immer die "Wahrheit" ist - Dr. Samuels Handeln im Konzentrationslager Auschwitz ist beispielhaft für die Rollenverteilung von „Opfer“ und „Täter“ - oder wie schwer sich die beiden Kategorien voneinander trennen lassen. In gewisser Weise vereint Samuel beide Rollen in sich als Häftlingsarzt: Er war natürlich als Jude Opfer des Nationalsozialismus und er hatte unter dem Regime gelitten, wie Millionen andere Menschen. Und dennoch führte er die Operationen und Versuche durch und vergrößerte somit das Leid der betroffenen Häftlinge. Aber greift es nicht doch zu kurz, Maximilian Samuel nur als Täter zu bezeichnen? Es ist schwer zu beurteilen, inwiefern er innerhalb des unmenschlichen Systems des Konzentrationslagers Auschwitz überhaupt „freiwillig" agieren konnte. Wurde Samuel von der SS gezwungen, unter Androhung von Folter und Tod? Hat er sich zur Durchführung der Operationen entschieden, weil sonst ein medizinisch unerfahrener anderer Häftling zu derselben Arbeit gezwungen worden wäre und Samuel somit die inhaftierten Patienten davor bewahren wollte, zusätzliche Schmerzen zu erleiden?
Zudem hatte er seine Ehefrau bereits verloren, er konnte nicht wissen, ob seine älteste Tochter es nach Großbritannien geschafft hatte, ob sie ihren Bruder gefunden hatte und wenn, ob seine beiden Kinder den Krieg überleben würden. Doch er wusste, dass seine zweite Tochter mit ihm an diesem furchtbaren Ort gefangen war. Wie könnte also ein Vater nicht alles opfern, jede Moral aufgeben, um seinem Kind eine noch so winzige Chance auf Überleben zu sichern?

Moralisch und ethisch kann sein Handeln durchaus als verwerflich gewertet werden, aber menschlich bleibt es nachvollziehbar. Wer ist man, dass man aus der sicheren Distanz über den Menschen urteilen und ihn verurteilen will?

Ebenso unmöglich ist es, sich vorstellen, was Hannah Liese gefühlt haben muss, als sie nach dem Krieg von dem Schicksal ihrer restlichen Familie erfuhr. Sie musste sich nicht nur mit dem Verlust von Eltern und Schwester befassen, sondern auch mit den schrecklichen Taten, die ihr eigener Vater im Block 10 begangen hat. Unabhängig davon, welche Variante von Maximilian Samuels Schicksal zutreffend ist, vielleicht gibt es auch noch eine unentdeckte andere Begründung für sein Handeln. Der Fakt, dass er als Häftlingsarzt fungiert hat, lässt sich nicht abstreiten. Sie muss nach Gründen und Rechtfertigungen gesucht haben, um den Glauben an den Vater nicht zu verlieren oder nur um den Ansatz einer Erklärung zu erhalten. Ob sich solche Taten überhaupt begründen, rechtfertigen oder erklären lassen, bleibt jedoch eine moralisch unlösbare Frage.

Liese Lottes Schicksal

Was auch immer Maximilian Samuel getan hat - seine Tochter konnte er nicht retten. Auch Liese Lotte ist in Auschwitz ermordet worden. Zeitpunkt und Umstände ihres Todes sind unbekannt, daher wurde sie mit Datum vom 08.05.1945 für tot erklärt.

Liese Lotte Samuel

Liese Lotte Samuel
(http://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=11622878&ind=25)

Hannah Lieses Leben im Ausland

Hannah Liese hatte Glück, sie blieb vor der fürchterlichen Erfahrung eines Konzentrationslagers verschont. Ihr weiteres Leben im Ausland wird in ihrem Nachruf auf dignitymemorial.com beschrieben:

London, Großbritannien

In London angekommen bekam Hannah Liese zunächst einen Job als Babysitter durch das Jewish Immigration Committee, bevor sie als Fotografin in verschiedenen Studios arbeitete. Am 29. September 1943 heiratete sie Joseph Heuser. Die Ehe hielt jedoch nicht lange, bereits vier Jahre später trennte sich das Paar, die Scheidung erfolgte am 16. Oktober 1947. Während dieser Zeit lebte Hannah Liese in Hampstead, einem Wohnort im Umkreis von London.

New York City, USA

Im Jahre 1949 entschied sich Hannah Liese für eine Emigration nach New York. Sie zog nie wieder nach Europa. Bis ihre offizielle Einbürgerung erfolgte, sollte es jedoch noch bis 1964 dauern.
In den Vereinigten Staaten nahm sie ihre Arbeit als Fotografin wieder auf, erst als Babyfotografin, 1953 dann als Medizinfotografin im Brooklyn Jewish Hospital.
Am 13. November 1954 entschied Hannah Liese sich für eine zweite Ehe mit Dale Plemmonds. Mittlerweile hatte Hannah Liese bereits einen gewissen Bekanntheitsgrad durch ihre Fotografien erreicht. Einige ihrer Werke wurden im „Life Magazine“ abgedruckt sowie in anderen amerikanischen Broschüren und Veröffentlichungen. Zwei ihrer Werke wurden sogar lebensgroß auf der „Chase Manhattan Bank’s Christmas Exhibition“ ausgestellt. Leider sind im Internet, trotz gründlicher Recherche, keine ihrer Fotos zu finden.
Doch auch ihre Ehe mit Dale ging nach vier Jahren in die Brüche, sie ließen sich 1958 scheiden. Fast zeitgleich gelangte Hannah Liese an Aufmerksamkeit durch einen Zeitungsartikel über „genetic research from behind the camera“ im Bereich der Fotomikrografie der Columbia University.
Hannah Liese belegte außerdem einen Kurs in „structure“ an der Columbia University.
Am 24. März 1974 heiratete Hannah Liese, mittlerweile 54 Jahre alt, Kurt Gerson. Die Trauung fand in New York statt. Aus keiner ihrer Ehen gingen Kinder hervor.

San Diego, USA

Kurze Zeit später ging das Ehepaar gemeinsam in Rente und zog 1977 nach San Diego. Dort wohnten sie zuerst in La Mesa, danach in den Paradise Hills. Im Jahre 1996 zogen Kurt und Hannah Liese zusammen in die „Wesley Palms Retirement Community“, ebenfalls in San Diego gelegen. Hannah Liese fungierte dort noch als die offizielle Fotografin der Organisation. Selbst im höheren Alter verreiste das Ehepaar gerne. Sie besuchten verschiedene Gebiete in Kalifornien, die kanadischen Rocky Mountains, Israel, Großbritannien und nahmen an einer karibischen Kreuzfahrt teil.
Drei Jahre später, 1999, verstarb Kurt Gerson. Auch nach Kurts Tod reiste Hannah Liese, nun bereits um die 80 Jahre alt, weiter um die Welt. Sie besuchte Südafrika, Australien, Neuseeland, Italien, Spanien, Portugal, Hawaii, Alaska und nochmal Großbritannien.

Hannah Liese Samuel, nun Hannah Gerson, starb am 12. November 2013. Ihre Asche wurde im Meer verstreut.

Hannah Gerson/Hannah Liese Samuel

Hannah Gerson/Hannah Liese Samuel
(http://obits.dignitymemorial.com/dignity-memorial/obituary.aspx?n=HANNAH-GERSON&lc=7051&pid=167980093&mid=5736581)


Durch Hannah Lieses Leben während und besonders nach dem Krieg erhalten wir einen umfangreichen Eindruck davon, welche Chancen sie bekommen hat und welche Erfahrungen sie hat machen dürfen. Dadurch wird einem auch bewusst, welche Erlebnisse Liese Lotte für immer verwehrt geblieben sind: die erste eigene Wohnung, der erste Job, Heiraten und Kinder bekommen, die Welt bereisen, frei sein.
Hannah Liese wird dies auch gewusst haben und der Verlust von direkt drei geliebten Menschen hat sie wahrscheinlich sehr tief getroffen. Mit welchen seelischen Verletzungen sie zu kämpfen hatte, können wir natürlich niemals beurteilen oder nachvollziehen und ich persönlich würde mir dies auch nicht anmaßen.
Ich hoffe einfach, dass sie sich gefreut hätte, ihr eigenes Schicksal und das ihrer Schwester vor dem Vergessen bewahrt zu sehen.

Quellen

http://obits.dignitymemorial.com/dignity-memorial/obituary.aspx?
n=HANNAH-GERSON&lc=7051&pid=167980093&mid=5736581&locale=en_US
(Nachruf auf Hannah Gerson/Hannah Liese Samuel);


Zu Dr. Samuels Tätigkeit in Auschwitz:

http://www.sueddeutsche.de/kultur/fotograf-in-auschwitz-viertel-sekunde-blende-1.441699-3
(Zeitzeugenaussage eines Häftlingsfotografen);

http://www.lbihs.at/V%F6lkleinMedizin.pdf
(zur Tätigkeit Samuels unter seinem "Vorgesetzten" Dr. Wirths);


Hans-Joachim Lang, Die Frauen von Block 10, Hamburg 2012, S. 152ff.;

https://books.google.de/books?id=_h39CwAAQBAJ&pg=PT283&lpg=PT283&dq=dr.+samuel+auschwitz&source=bl&ots=OKOHEGeCrb&sig=TNEWgoWEOxP1fIruB-Rv-821Tc8&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwimzcm4jIrZAhXBDuwKHfLWAukQ6AEIXDAH#v=onepage&q=dr.%20samuel%20auschwitz&f=false
(Hermann Langbein, Menschen in Auschwitz)


Robert J. Lifton, Ärzte im Dritten Reich, Stutttgart 1996, 287ff.;


http://www.mem.com/Biography/2239264/16760376/16760446?title=Biography
(Erinnerungen von Renée Düring)

Nachtrag

Nach Abschluss dieser Arbeit sind uns neue Dokumente zugänglich geworden - oder besser: alte Dokumente wieder zugänglich geworden, die durch den Einsturz des Historischen Archivs verloren waren und inzwischen wiederhergestellt werden konnten. Aus ihnen ergibt sich Folgendes:

Hannah Liese und Liese Lotte sind uns über eine Schülerinnenliste aus dem Jahr 1933 überliefert. Diese Liste trägt keinerlei Hinweis auf die Schule, wurde aber im Jahr 1978 zusammen mit allen anderen Akten der Königin-Luise-Schule an das Historische Archiv der Stadt Köln übergeben. Deshalb wurde sie natürlich zunächst der KLS zugeordnet. Auch durch eigene Autopsie konnte nun aber festgestellt werden, dass diese Liste aller Wahrscheinlichkeit nach der höheren Mädchenschule der evangelischen Gemeinde in der Antoniterstraße zugeordnet werden muss.

Nach Aussage dieser Liste besuchten beide Schwestern die Schule Antoniterstraße seit Ostern 1933. Liese Lotte befand sich in der Sexta (5. Klasse), Hannah Liese war in die Quarta (7. Klasse) eingetreten; welche Schule sie vorher besucht hatte und warum sie wechselte, ist unbekannt. Es gibt Indizien dafür, dass beide später auf die KLS gewechselt sein könnten. Ob oder wann dies geschah, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber unklar.


Inzwischen wissen wir, dass Lieselotte Samuel mit dem Kindertransport vom 20.12.1938 nach Belgien gelangte (freundlicher Hinweis von Herrn Stellmacher vom Arbeitskreis Gedenkort Jawne).

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