Gedenken zur Reichspogromnacht am 9. November - einmal anders

Es ist inzwischen schon Tradition, dass die KLS anlässlich des Jahrestages der „Reichspogromnacht“ am 9. November eine Gedenkfeier an den Stolpersteinen veranstaltet, um ein Zeichen gegen Ausgrenzung und Diskriminierung zu setzen. So war es auch in diesem Jahr, und auch dieses Jahr leuchteten abends wieder Kerzen an unseren Stolpersteinen. Die Zeremonie fand diesmal jedoch nicht an der KLS statt, sondern am „Gedenkort Jawne“ am Erich-Klibansky-Platz – dort wo sich ursprünglich die „alte“ KLS und das jüdische Realgymnasium Jawne in unmittelbarer Nachbarschaft befunden hatten.

Auch an der Jawne wird alljährlich an die Pogromnacht erinnert, und seit längerer Zeit arbeiten wir daran, die Zusammenarbeit zwischen Gedenkort und KLS zu intensivieren. In diesem Jahr kamen noch besondere – und besonders glückliche - Umstände hinzu. Der Zusatzkurs Geschichte der Q 2 hatte sich zu Beginn des Schuljahres entschieden, sich ebenfalls an der Erforschung von Biographien jüdischer Schülerinnen zu beteiligen – auch hier zeichnen sich bereits eindrucksvolle Ergebnisse ab. Durch einen glücklichen Zufall standen wir seit September diesen Jahres mit Judith Mekler in Kontakt, der Nichte unserer ehemaligen jüdischen Schülerin Charlotte Weissberg (https://www.koenigin-luise-schule.de/gedenkbuchdetails/charlotte-gabel.html). Sie plante gerade eine Reise von Israel nach Berlin, wo am 8. November Stolpersteine für Charlottes Schwester und ihre Familie verlegt werden sollten. Auf unsere Einladung hin kam sie dann nach Köln, um am 9. November an der Gedenkfeier teilzunehmen.

Aus diesem besonderen Grund hatte sich der Zusatzkurs entschieden, nicht nur an der Gedenkfeier der Jawne teilzunehmen, sondern auch einen eigenen Beitrag zu leisten. Nach gemeinsamer Erarbeitung im Unterricht stellten Liz, Lotte und Selina dem Publikum das tragische Schicksal von Charlotte Weissberg vor, darüber hinaus aber auch den Erkenntnisweg, auf dem wir in einem mehrjährigen Prozess diesen Lebensweg haben erforschen können, und die Lehren und Erkenntnisse, die sich für den Kurs aus dieser Arbeit ergeben.

Die Gedenkfeier war – in Anwesenheit von Vertretern der Stadt Köln, der Synagogengemeinde und Schülergruppen mehrerer Schulen – sehr eindrucksvoll und auch sehr gut besucht (für einen ausführlichen Bericht siehe https://www.kirche-koeln.de/zum-jahrestag-der-novemberpogrome-1938-gedenkfeier-mit-schuelern-am-loewenbrunnen/ ). Schülerinnen und Schüler vor allem der Liebfrauenschule und des Schiller-Gymnasiums stellten die Ergebnisse und Erkenntnisse ihrer Arbeit aus Workshops und aus ihrem Unterricht vor. Auf ganz besonderes Interesse stieß aber der Beitrag der KLS, wie sich aus den unmittelbaren, aber auch zahlreichen nachträglichen Reaktionen von Teilnehmern ergab.

Dies gilt nicht nur, vor allem aber für Judith Mekler. Bei einer anschließenden Kaffeerunde mit dem Zusatzkurs zeigte sie sich tief berührt vom Engagement unserer Schülerinnen und Schüler – sowohl in allen Aspekten unseres Erinnerungskonzepts als auch insbesondere in den Reden zu Ehren und zum Gedenken an ihre Tante Charlotte. Und wie bei so vielen unserer Projekte wird sich auch hier vielleicht noch Weiteres ergeben.

Aus diesen Gründen sollen die beeindruckenden Reden von Liz, Lotte und Selina als Vertreterinnen des gesamten Zusatzkurses auch hier publiziert werden – als Erinnerung, als Mahnung, aber auch als Anregung für die zukünftige Arbeit.

  

Das Schicksal von Charlotte Weissberg

Sehr geehrte Damen und Herren,

mein Name ist Lotte und ich bin Schülerin an der Königin-Luise-Schule. Ich möchte Ihnen heute etwas über das Leben von Charlotte Weissberg erzählen. Über eine Frau, die ihr Abitur an unserer Schule, der KLS, gemacht hat, so wie auch wir es im nächsten Sommer tun werden.

Charlotte wurde 1907 in Köln geboren als Tochter von Isaac Weissberg und Rebekka Gewürtz. Die Eltern stammten ursprünglich aus dem Osten und besaßen in Köln eine Weiß- und Wollwarenhandlung am Heumarkt. Sie gehörten der orthodoxen Gemeinde Adass Jeshurun an, an deren ursprünglichem Gemeindezentrum wir uns hier befinden. Sie waren also streng gläubig, und auch Charlotte besaß wohl eine ausgeprägte jüdische Identität. Sie wuchs in der über dem Geschäft liegenden Wohnung auf, gemeinsam mit ihren Eltern und den drei Geschwistern Israel, Annie und Benno.

Ob Charlotte bereits ab der 5. Klasse auf unsere Schule ging, ist nicht bekannt, spätestens kam sie im Jahr 1924 an die KLS und machte hier 1927 ihr Abitur. Als Berufswunsch für die Zeit nach dem Abitur gab sie damals Philologin an, sie wollte also Lehrerin werden. Zunächst besuchte sie das israelitische Lehrerseminar im Gemeindezentrum an der St.Apern-Straße. Dort machte sie 1928 das Examen als Volksschul- und Religionslehrerin und arbeitete anschließend als Hauslehrerin.

1929 zog sie nach Duisburg, wo sie als Referendarin an der jüdischen Volksschule unterrichtete, bis ihre Stelle 1931 gestrichen wurde, vermutlich in Folge der Weltwirtschaftskrise. Zuvor legte sie aber noch die zweite Lehramtsprüfung ab.

In den 1930er Jahren heiratete Charlotte den Religionslehrer Leo Gabel, mit dem sie in die kleine Gemeinde Malsch zog, die zum Landkreis Karlsruhe gehört. 1935 wurde dort auch ihr gemeinsamer Sohn Josua geboren.

In Malsch lebte die Familie drei Jahre lang in Ruhe, bis ihr Leben durch die sogenannte „Polenaktion“ für immer verändert wurde. Im Herbst 1938 wurde Leo Gabel von den Nazis zwangsweise nach Polen abgeschoben, so wie insgesamt 17 000 Menschen, die ursprünglich aus Polen stammten. Charlotte und ihr Sohn Josua blieben zunächst in Malsch, doch im Sommer 1939 sollte auch sie ausgebürgert und nach Polen abgeschoben werden.

Kurz zuvor war es Charlotte und Leo noch möglich gewesen, den vierjährigen Josua zu Charlottes Bruder Dr. Benno Weissberg zu geben, der bereits in den Niederlanden lebte. Auch wenn man vielleicht selbst keine Kinder hat, kann man sich ausmalen, wie schlimm das sowohl für Josua als auch für seine Eltern gewesen sein muss. Doch gleichzeitig zeigt die Überwindung, das eigene Kind wegzugeben, dass Charlotte und Leo vielleicht bereits vermuteten, was ihnen bevorstand.

Charlotte und ihr Ehemann lebten zunächst in der kleinen Stadt Posen, doch nach der deutschen Eroberung Polens wurden die beiden in das Warschauer Ghetto deportiert. Zusammen mit Leos Bruder Israel und dessen Frau Chaya lebten sie dort unter unvorstellbaren Bedingungen.

In einem Brief von 1941 schreibt Leo an seinen Neffen, hier ein Ausschnitt: „Die Not bei deinen Eltern ist sehr groß. […] Deine Mutter ist leider sehr schwach, da sie Diät leben müsste, was natürlich nicht möglich ist. […] Unsere Lage kannst du dir ja denken. Es mag dir vielleicht genügen zu erfahren, dass wir diesen Pessach nicht nur keine Mazzen kaufen konnten, sondern nicht einmal Brot und Kartoffeln. Dazu kommt, dass mein Gesundheitszustand sich sehr verschlechtert hat und ich oft zu Bett liegen muss. […] Du kannst dir von unserer Lage keine Vorstellung machen.“

Ein letzter Brief stammt von Juli 1941. Leos Schwägerin Chaya ist bereits verstorben und auch sein eigener Gesundheitszustand hat sich weiter verschlechtert. Danach verliert sich die Spur von Charlotte und Leo, beide wurden 1945 für tot erklärt.

Josua lebte zunächst bei seinem Onkel in Den Haag, musste jedoch ab 1940 untertauchen. Er überlebte unter falschem Namen und wanderte nach dem Krieg nach Palästina aus, zusammen mit seinem Onkel, der ihn später adoptierte. Josua wurde Rabbiner und starb 2021 im Kreise seiner 11 Kinder und deren Nachkommen.

Heute erinnern wir an unsere ehemalige Schülerin, Charlotte Weissberg, an ihr schreckliches Schicksal und das ihrer Familie. Wir möchten Sie nun alle bitten, mit uns in einer Schweigeminute den Opfern des Nationalsozialismus zu gedenken.

 

Die Entdeckung eines Schicksals

Sehr geehrte Damen und Herren,

Sie fragen sich jetzt vielleicht, wie wir überhaupt an diese Informationen über Charlotte Weissberg kommen. Über diesen Weg werde ich Ihnen nun genaueres erzählen.

Im Rahmen eines Projekts der Königin-Luise Schule im Geschichtsprojektkurs hatten Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, einen Namen zu erforschen, der im Jahr 2015 aus dem Schularchiv gewonnen werden konnte. Unter anderen Namen wurde auch Charlotte Weissberg gefunden und einem interessierten Schüler zugeteilt. Am Anfang war nur der Name bekannt, das Geburtsdatum, Religion, der Abiturjahrgang (1927) und Berufswunsch. Diese Informationen konnten aus dem Schuljahresbericht der Königin-Luise Schule von 1927 gewonnen werden. Aus diesem einzigen Namen ergab sich im Laufe von sieben Jahren durch genaue Recherche und viel Einsatz die Biografie von Charlotte Weissberg, welche Sie gerade gehört haben.

Zuerst begab sich der Schüler im Jahr 2017 auf die Suche im Internet und konnte bereits einige Informationen zusammentragen. Bekannt war nun, dass Charlotte Weissberg nach Baden gezogen war, geheiratet und einen Sohn bekommen hatte. Neben weiteren Namen und anderen Bruchstücken ihrer Biografie musste der Schüler außerdem feststellen, dass Charlotte im Warschauer Ghetto ermordet worden war. Eine solche Erkenntnis ist immer schrecklich und obwohl man sich darauf einstellen muss, wenn man ein solches Schicksal erforscht, ist man nie wirklich darauf vorbereitet.

Zwei Jahre später, im Frühjahr 2019, konnten im Stadtarchiv Duisburg zusätzliche Teile ihres Lebenslaufes entdeckt werden. Jetzt wussten wir von ihrer Tätigkeit als Lehrerin. Außerdem fand sich ein erstes Foto von Charlotte im Kollegenkreis. Dies ist sehr besonders und verändert die Sicht auf ein Schicksal. Jetzt kann man dem Namen und seiner Geschichte ein Gesicht zuordnen.

Wiederum zwei Jahre später, im Frühjahr 2021, erreichte die Schule eine bedeutungsvolle Mail von Judith Mekler mit Bezugnahme auf das Gedenkbuch der Königin-Luise Schule. Judith Mekler ist die Nichte von Charlotte Weissberg. Sie konnte nicht nur manche Vermutung bestätigen und weitere Lücken in Charlottes Biografie füllen, durch sie bekam die Arbeit an Charlottes Biografie viel mehr Bedeutung, da ein persönlicher Bezug zu ihrer Familie hergestellt werden konnte.

Ein weiteres Jahr später, im Frühjahr 2022, ergab sich aus einer Anfrage an das Landesarchiv Baden-Württemberg sowohl der Name ihres Vaters als auch die Wohnadresse. Wir erfuhren auch, dass die Familie ein Geschäft am Heumarkt besessen hatte. Als Folge daraus konnte über das Ahnenforschungsportal Ancestry das Schicksal von Charlottes Bruder Benno geklärt werden. Und über die Datenbank der Gedenkstätte Yad Vashem wurde leider auch die Ermordung des Vaters festgestellt.

Im Herbst 2022 schließlich ergab sich ein erneuter Mailkontakt mit Charlottes Nichte Judith Mekler. Im Austausch mit ihr erfuhren wir von Charlottes Schwester Annie und dem Schicksal ihrer Familie.

Judith konnte außerdem vieles andere über die Familie erzählen und unter anderem von der Zugehörigkeit der Familie zur Gemeinde Adass Jeshurun berichten. Neben diesen Angaben hat Judith Mekler der Schule weitere Fotos von dem Haus, dem Geschäft und von Charlotte mit Josua auf den Armen zur Verfügung gestellt. Insbesondere das Bild von Charlotte und Josua wirkt zutiefst bedrückend mit dem Hintergrundwissen, wie sich das Schicksal dieser beiden glücklich aussehenden Menschen entwickelt hat. Darüber hinaus hat Judith uns einen Brief aus dem Warschauer Ghetto zukommen lassen, welcher die schrecklichen Lebensumstände dort beschreibt.

Als Abschluss der Arbeit an Charlottes Schicksal ist Judith Mekler nun in Köln und auch heute anwesend. Wir freuen uns sehr ihre Bekanntschaft machen zu dürfen und sind erstaunt, was sich aus einem einzigen Namen ergeben kann. Am Anfang der Arbeit hätte wohl niemand gedacht, dass es möglich sein wird ein Gespräch mit der Nichte von Charlotte Weissberg zu führen.

 

„Charlotte und Wir“

Sehr geehrte Damen und Herren,

Mein Name ist Selina und ich spreche ebenfalls wie meine Vorrednerinnen für den Geschichte Zusatzkurs der Q2 an der Königin Luise Schule.

Unser Bild von Charlottes Leben hat sich über mehrere Jahre immer weiter vervollständigt. Viele Schülerinnen und Schüler aus den Abiturjahrgängen vor uns waren daran beteiligt.

Aus diesem Grund fragen Sie sich vielleicht, was wir als Kurs damit zu tun haben.

Obwohl wir keinen eigenen Anteil an der bemerkenswerten Aufarbeitung ihres Schicksals hatten, haben wir als Schule und natürlich auch als Schülerinnen und Schüler, immer wieder etwas von diesem Prozess mitbekommen.

Schon in der Unterstufe sind wir mit den Erforschungen von Biografien in Verbindung gekommen, sei es durch unsere ergriffenen und berührten älteren Geschwister und Mitschüler, die an dem Projekt teilnahmen. Oder durch den Tag der offenen Tür an unserer Schule, wo es Ausstellungen und Informationen gab. Oder durch unseren Kurslehrer Herrn Erkelenz, der nicht nur der Initiator dieses Projektes ist, sondern auch seit vielen Jahren mit Mühe und Hingabe hinter diesem Projekt steht und es hoffentlich auch noch viele weitere Jahre fortführen wird.

In der Erprobungsstufe schon haben viele Schülerinnen und Schüler unseres Kurses, damals noch als Klasse, eine Stolperstein-Patenschaft übernommen, bei der sie ihren Stolperstein nicht nur finanzierten, sondern auch pflegten und somit für ihn verantwortlich waren.

Am Anfang dieses Schuljahres entschied nun auch unser Kurs mit einer großen Mehrheit, die Erforschungen von Biografien weiter zu verfolgen.

Ein wichtiges Argument hierfür war sicherlich, dass die praxisbezogene Arbeit es uns anders als der sonst eher theoretischer Unterricht ermöglicht, selbstständig Parallelen zu geschichtlichen Ereignissen zu ziehen. Aber der eigentliche und viel wichtigerer Grund, aus dem wir uns entschlossen haben, Biografien erforschen zu wollen, ist ein anderer.

Hier erforschen wir nicht nur das oft tragische Schicksal eines Opfers, sondern gleichzeitig das Schicksal einer Schülerin unserer Schule, einer Schülerin unserer Schule wie jede von uns. Die Aufarbeitung eines Lebens bringt uns unbeschreiblich nah an das Leid und den Schmerz, den die jüdischen Schülerinnen unserer Schule, so wie Millionen andere, durch den Nationalsozialismus erlitten haben. Diese mehr als intensive Auseinandersetzung und Konfrontation berührt jeden und jede von uns unfassbar stark und ermöglicht uns eine ganz andere Vorstellung von der Dimension und dem Ausmaß des Leids, dass leider viel zu viele zu Unrecht erfahren haben.

Wir als Schülerinnen und Schüler fühlen uns mehr als verpflichtet, die Erinnerungen und Erfahrungen unserer ehemaligen Mitschülerinnen zu retten und zu bewahren.

Unser Ziel ist es, ihnen so ihre Namen zurückzugeben und mit dem Namen ihre Erfahrungen, ihren Charakter und ihr Schicksal, sodass sie niemals in Vergessenheit geraten.

Wir hoffen, dass durch unsere Arbeit Angehörige der Familien mehr über ihre Vorfahren erfahren und wir im Idealfall sogar mit Angehörigen in einen Austausch kommen können, so wie er heute mit Charlotte Weissbergs Nichte Judith Mekler stattfindet.

Für solche Erfahrungen sind wir sehr dankbar und erkennen durch sie auf eine andere Weise den Wert unseres Projekts. Als Schülerin, die zurzeit selbst eine Biografie erforscht, kann ich den Schülerinnen und Schülern im Publikum nicht genug ans Herz legen, wie bedeutend und berührend es ist solch einem Projekt nachzugehen und will sie dazu anregen es als Kurs zu initiieren.

Es hat für uns höchste Priorität, uns mit unserer Geschichte ständig zu konfrontieren, sodass sie niemals in Vergessenheit gerät.  Und vor allem soll sie uns eine ständige Mahnung sein. Wir wollen so ein Zeichen gegen jede Form von Diskriminierung und Ausgrenzung setzen. Damit sich so etwas niemals wiederholen kann.

Um nicht zu vergessen, muss erinnert werden. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

 

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