“Ich fühlte mich wie bei Anne Frank im Hinterhaus, wo sie mucksmäuschenstill sein mussten, um nicht erwischt zu werden.“

Dies sagte eine 11jährige auf einer Querdenker-Demo in Karlsruhe. Sie spricht hier über ihren Geburtstag, den sie wegen Corona nicht wie gewohnt feiern konnte, und vergleicht dann diese Einschränkung mit denen eines jüdischen Mädchens, das im Alter von 15 Jahren deportiert und ermordet wurde.

Ich habe dies mal zum Anlass genommen, unsere Einschränkungen durch Corona in den direkten Vergleich mit den Einschränkungen für Millionen Juden in der NS-Diktatur zu stellen – am Beispiel von mir selbst und einer jüdischen Schülerin, die während der NS-Zeit genau wie ich auf der Königin Luise Schule war. Dieses Mädchen – Marie Rhée - war zu dieser Zeit genauso alt wie ich und sie bekam vor einigen Wochen einen Stolperstein vor unsere Schule. Den Stein hat meine Oma gespendet, ich selbst habe die Patenschaft übernommen und deswegen habe ich mich intensiv mit ihrem Leben auseinander gesetzt.

Also, als ich 13 Jahre alt war, bestand mein Leben so ziemlich aus drei Schwerpunkten: Schule – Freizeit – Elternhaus. Ich ging fünf Tage in der Woche jeweils 6 Stunden in die Schule. Gegen 13:20 Uhr fuhr ich mit der Straßenbahn nach Hause, dort erledigte ich meine Hausaufgaben und anschließend ging ich mit Freunden nach draußen. Wir verbrachten den Tag, wo und wie wir wollten. Abends kamen dann meine Eltern von der Arbeit und wir aßen gemeinsam und erzählten uns von unserem Tag.

Ziemlich genau ein Jahr später, als ich 14 Jahre alt war, brach das Corona-Virus aus und mein kompletter Alltag änderte sich. Die Schulen schlossen fast weltweit, überall galt eine Maskenpflicht und wir mussten unsere sozialen Kontakte massiv eindämmen. Die meisten Geschäfte schlossen, ebenso fast alle öffentliche Plätze. Viele Menschen durften nicht mehr arbeiten oder verloren ihre Stelle komplett. Das war wirklich eine starke Umgewöhnung und es gab schwere und unangenehme Einschränkungen. Doch welche Einschränkungen hatte ein jüdisches Mädchen wie Marie Rhée
(geboren 1923) in genau meinem Alter?

Schon ab 1933, als Marie gerade 10 Jahre alt war, wurden Juden in der Öffentlichkeit diskriminiert und ausgegrenzt. Maries Vater war Rechtsanwalt – jetzt durften Juden nicht mehr als Anwälte arbeiten. Wovon lebt eine Familie dann? Woher kommt das Geld, wie verbringt man seine Zeit, woher zieht man Zufriedenheit und Selbstbestätigung?

Ein Jahr später, 1934 – Marie war 11 – wurde Juden verboten, ein Studium aufzunehmen, so wie es meine Schwester gerade überlegt und ich vielleicht auch einmal möchte.

1935 – Marie war 12 – kamen die „Nürnberger Gesetze“: Maries Vater verlor die Staatsbürgerschaft und durfte nicht mehr wählen, er war jetzt nicht mehr „Deutscher“ oder „Mensch“, er war „Volljude“; da ihre Mutter christlich getauft war, nannte man Marie selbst jetzt „Halbjüdin“ oder „jüdischer Mischling“ – was für ein schreckliches, unmenschliches Wort.

Ab 1935 gab es auch ein neues Unterrichtsfach in der Schule: „Rassenkunde“. Hier musste Marie jeden Tag hören, wie minderwertig ihr Vater sein sollte – und sie selbst. 1938 wurde Marie 14 und am 9. November terrorisierten die Nazis in Köln die jüdischen Bewohner und zerstörten massenhaft Wohnungen und Läden. Sie warfen Möbel aus den Fenstern oder zerstörten die Wohnung komplett, steckten Synagogen in Brand und wandten Gewalt auf offener Straße gegen jüdische Menschen an. Und so kam es, dass Marie am nächsten Morgen über Glasscherben zur Schule gehen musste - während sich dieses Jahr um ziemlich dieselbe Zeit meine Generation beschwert, nicht Karneval feiern zu dürfen.

Ab November/Dezember 1938 durften Juden keine öffentlichen Einrichtungen mehr besuchen wie Sportplätze oder Schwimmbäder, Bibliotheken, Museen, Kinos, Theater, Zoos oder auch nur auf Parkbänken sitzen - nicht weil diese geschlossen hatten aufgrund eines Virus, nein, aufgrund ihrer Religion.

Als Marie dann ca.15/16 war, gab es ein neues Gesetz über die Mietverhältnisse, so dass jede jüdische Familie von einem nicht – jüdischen Vermieter gekündigt werden konnte – und oft auch wurde. Ab dieser Zeit gab es Ausgangssperren (nur für Juden, nicht für alle anderen) und Juden durften kein Radio mehr haben, kein Telefon, Plattenspieler, Fahrrad, Auto oder Zeitungen. Sie mussten sogar ihre Haustiere abgeben.
Im September 1941, als Marie gerade 18 war, hieß es dann in einer Polizeiverordnung: „Juden müssen sichtbar auf ihrer Kleidung einen Judenstern tragen". Das bedeutet, die politisch Schwachen und bereits gesellschaftlich Benachteiligten mussten sich quasi sichtbar enttarnen und es wurde somit legal, Menschen mit einem Judenstern schlechter zu behandeln als andere und Gewalt gegen sie anzuwenden.

Im selben Jahr schließlich begannen die Deportationen: Jetzt wurden die Juden systematisch ermordet, unter anderem in Auschwitz oder – wie Anne Frank – in Bergen-Belsen. Und Marie wusste genau, was dort geschah und was ihr und ihrem Vater drohte.

2020 müssen wir nun alle eine Maske tragen, um Solidarität gegenüber Schwächeren zu zeigen, nicht um die Schwächeren noch schwächer zu machen. JEDER Mensch trägt eine Maske, damit wir uns alle gegenseitig schützen und ALLE auf einander aufpassen und uns eben gerade nicht gegenseitig ausgrenzen. Klar, die Masken sind manchmal lästig, aber wir müssen uns klarmachen, warum wir sie tragen! Denn sie sind ein Zeichen des Zusammenhalts weltweit !!

Während einige Menschen eine Zeit lang aufgrund eines tödlichen VIRUS nicht ins Ausland dürfen, durften ab dem 23. Oktober 1941 Menschen nicht mehr ins Ausland aufgrund ihrer Religion oder ihrer Sexualität, so auch Marie Rhée.

Nun wird dieses Jahr im Dezember wohl die größte Herausforderung sein, Weihnachten ohne zum Beispiel die Großeltern zu feiern, weil diese über 60 sein könnten und deswegen zur Risikogruppe gehören - also um sie vor Corona zu schützen. Im Dezember 1941 konnten die Großeltern teilweise nicht Weihnachten mit ihrer Familie feiern, weil sie bereits deportiert und möglicherweise schon ermordet waren.

Also, nehmen wir das zum Anlass, unsere Masken zu tragen, uns an die Vorschriften zu halten und aufeinander aufzupassen. Zeigen wir Solidarität! Und unterlassen wir abwegige Vergleiche!

Luzi.1802 (8b)

 

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