Gedenken zum 80. Jahrestag der Novemberpogrome vom 9.11.1938
Vor genau 80 Jahren – in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 – erschütterten Gewaltexzesse ganz Deutschland. Ein entfesselter Mob fiel über eine Minderheit in der deutschen Gesellschaft her: die Mitbürger jüdischer Konfession. Nach Darstellung der nationalsozialistischen Machthaber entlud sich hier der „spontane Volkszorn“ als Reaktion auf ein Attentat, das ein junger Mann polnisch-jüdischer Herkunft auf einen deutschen Botschaftsmitarbeiter wenige Tage zuvor in Paris verübt hatte.
Die Folgen dieser Gewalt waren verheerend: Über 1400 Synagogen und andere jüdische Gebäude wurden niedergebrannt, Geschäfte und Wohnungen jüdischer Inhaber verwüstet und geplündert. Unzählige Menschen wurden selbst Opfer brutaler Übergriffe, über 400 von ihnen wurden in ihren Wohnungen oder auf offener Straße ermordet oder in den Selbstmord getrieben.
In Köln geschah dies ebenso wie in allen anderen Städten, auch im unmittelbaren Umfeld der Königin-Luise-Schule (KLS). Alle sieben Synagogen in Köln wurden zerstört, die große Synagoge an der Roonstraße niedergebrannt, die Synagoge in der St. Apern-Straße in unmittelbarer Nähe zum früheren Gebäude der KLS wurde verwüstet; sie wurde nur deshalb nicht niedergebrannt, weil man ein Übergreifen des Feuers auf die „deutsche Schule“, die KLS, befürchtete. Auf den Ringen, auf der Schildergasse, in der St.-Apern-Straße – überall zerstörte und plünderte man jüdische Wohnungen und Geschäfte, von denen es im Umfeld der Schule sehr viele gab (Link: „Jüdisches Leben im Umfeld der Schule"). Von welcher Seite auch immer ihr Schulweg die Schülerinnen der KLS am Morgen des 10. November zur Schule führte – vom Heumarkt, vom Rudolfplatz (damals umbenannt in Leo-Schlageter-Platz), vom Ebertplatz (damals Adolf-Hitler-Platz) – überall waren die Spuren der Verwüstungen unübersehbar. Brandgeruch und Feuerschein hingen in der Luft, vor den Synagogen in der Glockengasse und der St. Apern-Straße lagen Einrichtungsgegenstände, Bücher, heilige Gerätschaften, die Straßen waren bedeckt von zertrümmerten Möbeln, die man aus den Fenstern geworfen hatte, oder von den zerschlagenen Auslagen der Geschäfte. Auf der Schildergasse war ein LKW mehrmals rückwärts in die Schaufenster eines großen Kristallwarengeschäfts gefahren. Vermutlich handelte es sich um das Geschäft von Jacob Marcan, Onkel der beiden jüdischen Schülerinnen Lieselotte und Hannah Liese Samuel, für die zwei Stolpersteine vor unserer Schule liegen. Eine Zeitzeugin, selbst Schülerin der KLS, berichtet von ihrem ungläubigen Entsetzen, als sie auf dem Schulweg vor diesem Geschäft knöcheltief durch die Trümmer der Kristall- und Porzellanwaren waten musste.
Wegen der Unmenge an zerschlagenem Glas bürgerte sich zunächst die – euphemistische oder zynische – Bezeichnung „Reichskristallnacht“ ein – heute verwenden wir stattdessen den Begriff „Reichspogromnacht“ oder „Novemberpogrom“.
„Spontaner Volkszorn“ klingt schon übel genug – aber davon konnte keine Rede sein. Vielmehr handelte es sich um staatlich inszenierte Gewaltexzesse, vom nationalsozialistischen Regime von langer Hand geplant und vorbereitet. Der Mob – das waren Angehörige von SA und SS in Zivil, die anhand vorbereiteter Listen und Pläne vorgingen. Die Polizei hatte Weisung, sich herauszuhalten. Die Feuerwehr wartete in den Nebenstraßen und sollte nur eingreifen, wenn nichtjüdische Gebäude von den Bränden bedroht waren.
Das Attentat in Paris war nur ein Vorwand, auf den die Nazis gewartet hatten und der ihnen als Anlass für eine schon länger geplante Aktion gelegen kam. Natürlich war dieses Attentat ein Verbrechen, keine Frage – aber doch die Aktion eines Einzeltäters, mit der andere nichts zu tun hatten.
Wenn jemand eine Mitschuld trug – dann die Nazis selbst, denn dieses Verbrechen hatte eine spezifische Vorgeschichte: die sogenannte „Polenaktion“. In Deutschland lebten zu dieser Zeit viele polnische Juden, die teils schon vor Jahrzehnten nach Deutschland geflohen waren, um den gewaltsamen Verfolgungen in Polen und Russland zu entkommen. Viele von ihnen waren bereits „assimiliert“, sprachen Deutsch, empfanden sich als Deutsche, waren in die Gesellschaft integriert – aber sie waren offiziell noch polnische Staatsbürger. Ende Oktober 1938 wurden mehr als 17 000 von ihnen – gewaltsam und völlig überraschend – verhaftet und binnen weniger Stunden von Deutschland über die Grenze nach Polen abgeschoben. Auf polnischer Seite wurden diese Menschen aber zunächst nicht aufgenommen, sondern vegetierten unter teils unsäglichen Bedingungen im Grenzgebiet oder in Sammellagern. Betroffen waren auch hier mindestens eine ehemalige Schülerin der KLS, Charlotte Weißberg, ihr Ehemann Leo Gabel sowie ihr kleiner, damals gerade dreijähriger Sohn Josua – und auch die Eltern des Attentäters von Paris. Auslöser für seine Gewalttat war offensichtlich die Verzweiflung über das Martyrium seiner Eltern.
Mit den Novemberpogromen – und der vorangehenden Polenaktion – erreichte die antisemitische Politik des nationalsozialistischen Deutschlands eine neue Stufe. War es vorher um Entrechtung und Diskriminierung gegangen, so beschritt man jetzt – durch diesen Exzess staatlicher und staatlich legitimierter Gewalt bis hin zum Mord – den Weg gewaltsamer Verfolgung, der innerhalb der nächsten drei Jahre zum Massenmord führen sollte. Die Gründe für diese Radikalisierung liegen auf der Hand.
Seit 1933 war der Antisemitismus Staatsdoktrin. Vom ersten Tag an begann für alle jüdischen Deutschen eine endlose Kette immer weiterer und weiter differenzierter rechtlicher Diskriminierungen, begleitet von einer sich immer weiter steigernden Hasspropaganda in allen Medien. Das Ziel dahinter war zunächst, sie zu entrechten, zu demütigen, alle ihre Verbindungen zum Rest der Gesellschaft zu kappen, ihre wirtschaftliche und soziale Existenz zu vernichten, um sie so zur Ausreise zu zwingen. Das Ergebnis war für die Machthaber aber nicht zufriedenstellend: Viele wurden so zwar vertrieben, aber viele konnten oder wollten sich nicht von ihrer Heimat trennen.
Dazu kam ein weiterer Grund. Viele der spektakulär erscheinenden wirtschaftlichen „Erfolge“ der Nazis – die Baumaßnahmen, vor allem aber die immer wieder genannte Beseitigung der Arbeitslosigkeit – waren nur durch eine verantwortungslose Staatsverschuldung möglich gewesen. In noch viel stärkerem Maße galt das für die extrem forcierte Aufrüstung für den geplanten Krieg, der binnen Jahresfrist beginnen würde. Die Staatsverschuldung hatte ein gigantisches Ausmaß erreicht, spätestens 1938 drohte der Staatsbankrott – mit allen negativen Folgen für die politischen Ziele, aber auch die Akzeptanz des Regimes in der Bevölkerung. So gerieten die jüdischen Deutschen jetzt auch zunehmend in anderer Hinsicht ins Visier: um durch den Raub ihrer Besitztümer die Staatsfinanzen zu entlasten.
Betrachtet man die Maßnahmen, die die Novemberpogrome flankierten, so werden staatliche Lenkung und Zielsetzung unmissverständlich deutlich. Ab dem 10. November wurden reichsweit mehr als 30 000 jüdische Männer verhaftet und für Wochen oder Monate in Konzentrationslager verschleppt, Hunderte von ihnen wurden dort ermordet oder starben an den Folgen der Misshandlungen. Bevorzugt wählte man Wohlhabende, die auf diese Weise zur Abtretung ihres Besitzes und zur Ausreise gezwungen werden sollten. In Köln sollen es mehr als 800 jüdische Deutsche gewesen sein, die verschleppt wurden. Darunter waren auch Angehörige von Schülerinnen der KLS: der Bruder einer Schülerin, die sich zu diesem Zeitpunkt gerade in der Untersekunda (11. Klasse) befand, wurde zwei Wochen in Dachau inhaftiert, ein Onkel von Lieselotte Sussmann wurde dort im Dezember 1938 ermordet.
Die angerichteten Schäden mussten die Opfer selbst bezahlen, sie wurden gleichsam zu Schuldigen, zu Verantwortlichen gemacht. Darüber hinaus wurde den jüdischen Deutschen eine Strafzahlung – zynisch „Sühneleistung“ genannt – in Höhe von einer Milliarde Reichsmark auferlegt, die sie an den Staat zu zahlen hatten.
Durch einen Erlass wurde allen jüdischen Kindern der Besuch deutscher Schulen verboten – jetzt mussten auch die letzten jüdischen Schülerinnen von einem Tag auf den anderen die KLS verlassen. Und bis Anfang Dezember 1938 wurden die jüdischen Deutschen durch zwei weitere Verordnungen um den wesentlichen Teil ihres Besitzes gebracht: Sie durften keinerlei Geschäfte mehr betreiben, z.B. Handwerksbetriebe, Einzelhandels- oder Versandgeschäfte, Markt- oder Messestände, mussten ihre Gewerbebetriebe und ihren Grundbesitz verkaufen, Wertpapiere bei einer Devisenbank hinterlegen, durften Juwelen, Edelmetalle und Kunstgegenstände nicht mehr frei verkaufen; kurze Zeit später mussten sie letztere bei staatlichen Ankaufstellen weit unter Wert verkaufen.
Nicht alle Juden waren reich, waren Bankiers oder Großunternehmer – das ist auch heute noch ein weit verbreitetes Vorurteil. Doch hier ging es um Hunderttausende von Menschen und damit in Summe um ganz erhebliche Werte, die der Staat gewaltsam raubte. Auch die Auswanderungszahlen stiegen nach diesem Gewaltexzess sprunghaft. Doch viele flohen auch jetzt noch nicht - weil sie die Gefahr unterschätzten, sich nicht von der Heimat lösen konnten, weil man ihnen die finanziellen Mittel genommen hatte oder weil das Ausland sie nicht aufnahm. Wer aber bis Kriegsbeginn das Land nicht hatte verlassen können, der wurde in den meisten Fällen im Zuge des Holocaust ermordet, darunter zahlreiche ehemalige Schülerinnen der KLS und ihre Familienangehörigen. Begonnen hatte dieser Weg unmissverständlich mit den Gewaltexzessen der Novemberpogrome.
Und die Deutschen? Will sagen: die nicht-jüdischen Deutschen? Wie reagierten sie auf die Gewalt gegen Mitbürger, die zumindest bis vor kurzem noch Mitschüler, Arbeitskollegen, Nachbarn, Freunde gewesen waren? Nur wenige beteiligten sich direkt, aber auch nur wenige widersetzten sich. Die meisten standen dabei und schauten zu. Das konnte man als distanziertes Schweigen deuten – oder als schweigendes Einverständnis.
Wie konnte das geschehen – abgesehen von dem generellen Problem, das Menschen mit der Zivilcourage immer zu haben scheinen? Die Deutschen – die konservativen Eliten, aber auch jeder einzelne Wähler – hatten ein Regime an die Regierung kommen lassen, das in Wort und Tat aus seiner rassistischen, militaristischen, antidemokratischen Zielsetzung keinen Hehl gemacht hatte. Das war der erste Fehler. Der zweite war, dass niemand widersprach, als die Nazis begannen, die Demokratie auszuhöhlen, die Gewaltenteilung zu untergraben und alle Macht an sich zu ziehen. Ganz am Anfang hätte man vielleicht noch etwas tun können, aber jetzt, im Jahr 1938, war es zu spät – jetzt verfügten die Nazis über die gesamte Macht im Staat und niemand konnte sich mehr offen widersetzen ohne Gefahr zumindest für den Lebensweg, wenn nicht sogar für Leib und Leben.
Doch es war keineswegs alles Zwang, die deutsche Bevölkerung hatte sich auch korrumpieren lassen durch die scheinbaren innen- und außenpolitischen Erfolge des Regimes, vor allem die Beseitigung der Arbeitslosigkeit und die Revision des Versailler Vertrages mit seinen demütigenden Bestimmungen, die Angst und Hass erzeugt hatten. Dabei hätten auch die Zeitgenossen sehen können, dass die wirtschaftlichen Erfolge nicht nachhaltig sein konnten und die aggressive Außenpolitik immer stärker das Risiko eines neuen Krieges heraufbeschwor. Aber angesichts des eigenen Vorteils verschloss man nur zu gerne die Augen vor der Realität und war bereit, Inakzeptables zu akzeptieren. Auch heute sehen wir leider zu oft, wie rücksichtslos der eigene Nutzen vor Solidarität und Moral gesetzt wird. Und auch heute sind zu viele bereit, angesichts früherer Verdienste aktuelles Unrecht zu tolerieren.
Diese Fehler dürfen uns nicht wieder unterlaufen, und aus diesem Grund wollen wir als Einzelne und als Schulgemeinschaft den Jahrestag der Novemberpogrome als Anlass zum Gedenken nehmen. Zum einen für die Erinnerung an die Opfer. Zum anderen als Mahnung für uns selbst. Und als Zeichen dafür, dass wir uns gegen jede Form von Rassismus und Unmenschlichkeit wenden, und zwar vom ersten Moment an.
Wir akzeptieren keine Einschränkung von Demokratie, Gewaltenteilung oder Meinungsfreiheit, denn nur dies schützt vor dem Missbrauch staatlicher Macht. Wir wenden uns gegen jeden, der versucht, in Wort oder Tat die Rechte und die Würde von Menschen einzuschränken oder ungleich zu verteilen. Und wir wenden uns gegen jeden, der – jenseits einer sachlichen Diskussion – durch eine enthemmte Sprache den Boden für enthemmte Taten bereitet.
Aus diesem Grund wollen wir am Freitag, den 9. November 2018, um 9.00 Uhr der Opfer in besonderer Weise gedenken. Bei den erstmalig in diesem Jahr verlegten Stolpersteinen wollen wir uns versammeln, Blumen und Kerzen niederlegen und so die Opfer vor dem Vergessen bewahren. Alle Mitglieder der Schulgemeinde– aus der Schülerschaft, dem Kollegium, der Elternschaft – sind herzlich eingeladen, sich mit einer Blume oder einer Kerze an diesem Tag an unserem Gedenken zu beteiligen.